DOMRADIO.DE: "Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat oder er wird nicht mehr sein." Das hat der Theologe Karl Rahner gesagt. Das Zitat geht aber noch weiter. Er prophezeit darin den Untergang der christlichen Religion als Volksreligion, als selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte, die über religiöse Erziehung vermittelt wurde. Wie hellsichtig war Karl Rahner damals?
Volker Leppin (Professor für Historische Theologie an der Yale Universität im US-Bundesstaat Connecticut): Unglaublich hellsichtig, wenn man bedenkt, dass es in den 60er Jahren gesagt wurde, als wir noch eine komplett volkskirchliche Situation hatten. Im Grunde ist das ja eine Entwicklung der letzten drei, vier Jahrzehnte, dass die Volkskirche bröckelt. Und jetzt sind wir in einer Situation, in der wir relativ bald erleben werden, dass die Volkskirchen in Deutschland in der Minderheit sind. Dann lohnt es sich, wieder auf Karl Rahner zu schauen und zu gucken: Gibt es da Impulse für unsere gegenwärtige Situation?
DOMRADIO.DE: Was meint denn Karl Rahner mit "Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein"? Sie zitieren ihn ja auch in Ihrem Buch – wer oder was ist für Rahner ein Mystiker?
Leppin: Er sagt es ja: Das ist jemand, der etwas erfahren hat. Das heißt jemand, der – ich spitze es mal zu – sich nicht in dogmatischen Formulierungen verheddert. Das ist ganz interessant, denn Karl Rahner kann unglaublich kompliziert schreiben. Wer im Theologiestudium mal Rahner lesen musste, hatte hart zu arbeiten. Er sagt, das reicht nicht, sondern man braucht einen Grund, der alle Menschen anspricht. Ich denke, das ist diese Perspektive. Ein Grund, in dem ich erfahre: Ich bin nicht mit meinem Ego das Bestimmende, sondern es gibt etwas oder jemanden, der mich bestimmt und hält.
DOMRADIO.DE: In der Geschichte der Mystik spielen Frauen eine wichtige Rolle: Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und viele andere. Das, was sie predigen und aufgeschrieben haben, hatte oft auch anarchistische Sprengkraft. Da sind zum Beispiel die ekstatisch-erotischen Bilder von Mechthild von Magdeburg oder auch die Widerständigkeit gegen die Kirchenobrigkeit von anderen Frauen. Wie ist denn die Kirchen-Hierarchie mit diesen selbstbewussten Frauen umgegangen?
Leppin: In den meisten Fällen leider nicht sehr freundlich. Viele von diesen Frauen sind hinausgedrängt worden, aus dem kirchlichen Zusammenhang. Es gibt etwa die Hinrichtung von Marguerite Porete, einer französischen Begine (asketischer Laienorden), die ein hoch gelehrtes Buch, "Der Spiegel der einfachen Seelen", geschrieben hat. In diesem Buch hat sie unter anderem auch deutlich gemacht: Man braucht eigentlich gar keine Sakramente. Dafür ist sie dann hingerichtet worden.
In anderen Fällen hat die kirchliche Hierarchie durch die Begleitung von Klerikern Kontrolle über die Frauen ausgeübt. In manchen Fällen haben sie diese Frauen auch nicht richtig in den Griff gekriegt. Hildegard von Bingen hat mit großem Selbstbewusstsein ihr Kloster geleitet, hat sich gegen kirchliche Hierarchie gestellt. Insofern ist der Umgang sehr unterschiedlich. In jedem Fall würde ich sagen, die Art und Weise, wie diese Frauen aufgetreten sind, macht Mut auch in heutigen Zeiten die Stimmen der Frauen zu hören.
DOMRADIO.DE: Erstaunlich sind auch diese ekstatisch-erotischen Dinge, die die Frauen – und auch Männer –, in ihren mystischen Erfahrungen erlebt und beschrieben haben. Woher kommt das?
Leppin: Es gleitet gewissermaßen hinein durch die biblischen Bilder, die ein gewisser Bernhard von Clairvaux in die Mystik zum Beispiel aus dem Hohelied der Liebe hineinbringt. Wir wissen nicht genau, wie solche wunderbaren orientalischen Liebeslieder in die hebräische Bibel hineinkamen. Von dort aus entwickelt Bernhard von Clairvaux den Gedanken von der Seele als Braut des Bräutigams Christus. Das wird dann immer stärker – auch in den Bildern, die insbesondere Frauen entwickeln – materialisiert. Christus ist derjenige, der umarmt wird, der geküsst wird, mit dem intime Situationen erlebt werden. Da entsteht eine Einheit mit Gott, wie Sexualität auch die Einheit zwischen Menschen mit sich bringt.
DOMRADIO.DE: Also die sexuelle Erfahrung als mystische Erfahrung und umgekehrt?
Leppin: Auf metaphorischer Ebene vielleicht schon. Ich würde nicht so einfach sagen, dass jede sexuelle Erfahrung eine mystische Erfahrung ist. Da lasse ich den unterschiedlichen Lebensweisen mal viel Raum. Aber die metaphorische Entsprechung, dass Sexualität letztlich bedeutet: Ich gehe in jemand anders auf, ich sprenge meine eigenen Grenzen, das entspricht dem, was die Begegnung zwischen Mensch und Gott in der Mystik ausdrückt.
DOMRADIO.DE: Kommen diese Metaphern ursprünglich aus der Literatur oder ist es umgekehrt?
Leppin: Es ist wohl eher so, dass es aus der Literatur kommt. Gerade diese erotische Mystik entwickelt sich in der Zeit, in der der Minnesang präsent ist. Der Minnesang ist natürlich vorsichtig mit erotischen Metaphern, aber er hat immer mal wieder Szenen wie "da draußen, wo unser beider Betten waren" – so heißt es in einem berühmten Gedicht. Das wird im Grunde aufgenommen. Es gibt dann das Bett von Christus und der liebende Mystikerin.
DOMRADIO.DE: Frauen wie Hildegard von Bingen und andere ließen sich von der Kirchenobrigkeit nicht unterkriegen, wie Sie sagen. War die Mystik eine Art Frauenbewegung?
Leppin: Es ist diejenige Bewegung innerhalb des Christentums, in der am deutlichsten immer Frauen als Theologinnen, als vorwärtsweisende Theologinnen präsent gewesen sind. Für mich ist eines der genialsten Beispiele Juliana von Norwich, die den Gedanken entwickelt "Jesus ist eine Mutter". Damit spricht sie unsere geschlechtlich festen, auf Männer festliegenden Formen für Gott und für Christus und wird dem, was Gott ist, viel stärker gerecht, als wenn man immer nur von einem Vater redet und sich vorstellt, Gott wäre ein Mann.
DOMRADIO.DE: Da sind wir mitten in dieser Gender-Diskussion. Diese Debatte ist in der Kirche sehr spannend. Viele Dinge, die Männer tun sind weiblich konnotiert: das Tragen von Frauenkleidung zum Beispiel, sie waschen sich die Füße, singen miteinander Lieder. In der Mystik scheint es dann ähnlich zu sein, oder?
Leppin: Im Grunde ist es eine ganz tiefe Erkenntnis zu sagen: Gott mit dem bzw. mit der wir zu tun haben, ist jenseits von all diesen Begrenzungen durch Mann, Frau, durch Geschlechter. Wir sind ja nun auch in einer Diskussion, in der wir lernen: Es gibt nicht nur die zwei Geschlechter, es gibt viel mehr Wirklichkeiten. Das heißt, wir lernen gerade auch neu Gottes Existenz jenseits der Geschlechtlichkeit zu verstehen. Und dabei helfen uns diese mittelalterlichen Mystikerinnen auch.
DOMRADIO.DE: Im Mittelalter haben die gläubigen Christen mystische Erfahrungen für bare Münze genommen. Man denke nur an die sichtbaren Wundmale des heiligen Franziskus, um hier nur ein Beispiel zu nennen. Das ist für uns heute eher fremd oder spaltet auch die Menschen: Während die einen beispielsweise fest an Padre Pios Wundmale glauben – ein großes Phänomen nicht nur in Italien – halten andere Padre Pio für einen Bekloppten. Wie soll man damit umgehen?
Leppin: Ich werde mich jetzt weder für die eine noch die andere Variante entscheiden, sondern konzentriere mich eher auf die historischen Phänomene, mit denen ich viel zu tun hatte. Sie nennen Franz von Assisi, der ja das Urbild dieser Stigmatisierung ist. Da würde ich sagen, es ist letztlich nicht entscheidend: War das nun oder war das nicht? Das ist auch im Grunde eine sehr schlichte Frage, ob da was passiert ist oder nicht. Das Interessante ist, was die Menschen darunter verstanden haben.
Das Beeindruckende ist, dass da Menschen im 13. Jahrhundert in Italien sagten: Für uns ist in diesen Menschen Christus noch einmal neu Wirklichkeit geworden. Und wenn wir das so aufnehmen, dann haben wir auch einen ökumenisch sehr sinnvollen Umgang mit jemanden wie Franz von Assisi jenseits der Frage nach der Realität der Stigmata.
DOMRADIO.DE: Dennoch scheint es für uns heute sehr fremd. Könnte man nicht einfach sagen, das waren vielleicht auch Psychopathen aus heutiger Sicht? In Ihrem Buch bekommt man bei der Lektüre vieler Originalzitate das Gefühl, dass die Mystiker ganz schön durchgedreht waren.
Leppin: Sie waren anders. Und das muss nicht unbedingt heißen, sie waren durchgedreht. Sie haben eine andere Form von Wirklichkeit aufgenommen, manchmal mit sehr spitzen, starken Formulierungen. Eine Gesellschaft braucht das auch immer – diese Andersheit, die einen kritischen Stachel in ihr selbst darstellt. Und eine Kirche braucht das erst recht.
DOMRADIO.DE: Interessant ist auch, dass es die Mystik in ganz vielen Religionen gibt. Kann Mystik deshalb auch Konfessionen einenander näherbringen?
Leppin: In der Tat ist es sicherlich kein Zufall, dass ich mich mit Mystik beschäftige und die Ökumene mir ein Herzensanliegen ist. In dem Sinne, wie ich vorhin sagte "Mystik kritisiert die dogmatische Sprache", würde ich im Blick auf die Ökumene sagen: Unsere ökumenischen Gespräche verhaken manchmal deswegen, weil Menschen sich einkesseln in bestimmter dogmatischer Sprache.
Ich selbst habe in den vergangenen zwei Jahren die Situation erlebt, dass die entsprechenden Instanzen im Vatikan Schwierigkeiten mit einem Text unseres Ökumenischen Arbeitskreises hatten, der Möglichkeiten zu einem gegenseitigen Verständnis von Abendmahl eröffnet hat. Da habe ich genau das gemerkt: Dogmatische Sprache kann einengen. Da kann Mystik öffnen, ein Rückfall in eine vorbegriffliche, vordogmatische Sprache mit sich bringen, die uns vielleicht auch hilft, neue Begriffe zu finden.
DOMRADIO.DE: Kommen wir noch mal zurück zum Zitat von Karl Rahner "Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein". Kann man denn als bestrebter frommer Mensch lernen ein Mystiker zu sein oder mystische Erfahrung zu erleben?
Leppin: Man kann sich dem annähern, Schritt für Schritt, vor allen Dingen durch den Weg in sich selbst. Das ist, was die Mystikerinnen und Mystiker immer wieder raten. In einem berühmten mittelhochdeutschen Zitat heißt es "nim din selbes war" – es bedeutet sich selbst wahrzunehmen, in sich hineinzuschauen. Herbeiführen, erst recht Herbeizwingen, kann man die mystische Erfahrung nicht – die ist immer ein Geschenk.
DOMRADIO.DE: Sie haben da einen schönen Vergleich gebracht: Es ist wie Einschlafen.
Leppin: Genau. Am Ende ist es nicht das Zählen der Schafe, das mich in den Schlaf bringt, sondern auch da kommt der Schlaf irgendwann. Ich habe ihn nicht herbeigezogen. Er erfasst mich.
DOMRADIO.DE: Es ist also kein Automatismus, wenn ich an einem Gottesdienst teilnehme, am Abendmahl, an der Messe, an der Eucharistie, dass ich da immer eine mystische Erfahrung habe?
Leppin: Es mag auch Gottesdienste geben, in denen mich eher der Schlaf erfasst als die Mystik. Das ist dann etwas unglücklich gelaufen (lacht). Nein, der Gottesdienst kann die Mystik auch mir nicht mehr "andemonstrieren". Ich kann mit einer entsprechenden Offenheit hineingehen. Ich kann die Lichter sehen, ich kann den Geruch riechen und das auf mich wirken lassen und darauf hoffen und darum beten, dass ich dann erfasst werde.
DOMRADIO.DE: Kann man mystische Erfahrungen machen ohne an Gott zu glauben?
Leppin: Man kann vielleicht zu der mystischen Erfahrung kommen, ohne an Gott zu glauben. Ich denke aber, wenn man sie gemacht hat, wird man an Gott glauben.
Das Interview führte Johannes Schröer.