Gottesdienst in Duisburg 13 Jahre nach Loveparade-Unglück

"So ist der 24. Juli eines jeden Jahres zu einem Kraftakt geworden"

21 Tote, zahlreiche Verletzte: Auch nach 13 Jahren wird der Opfer der Loveparade-Katastrophe von 2010 in einem Gottesdienst gedacht. Warum den Angehörigen das wichtig ist und wie es ihnen heute geht, weiß Pfarrer Martin Winterberg.

Kränze liegen vor der Gedenkstätte für die Opfer des Loveparade Unglücks / © Oliver Berg (dpa)
Kränze liegen vor der Gedenkstätte für die Opfer des Loveparade Unglücks / © Oliver Berg ( dpa )

DOMRADIO.DE: Der Gedenkgottesdienst am Jahrestag der Loveparade-Katastrophe hat schon Tradition. Warum ist er so wichtig?

Martin Winterberg (Pfarrer an der Salvatorkirche in Duisburg): Er beruft sich zurück auf den ersten Gottesdienst, den wir eine Woche nach der Tragödie hatten. Das ist die Woche gewesen, wo gerade die Angehörigen der Verstorbenen, aber genauso natürlich die Verletzten, die Traumatisierten, irgendwas an Reaktion von der Stadt Duisburg, irgendein Wort erwartet hätten. Aber alle haben sich da sehr zurückgehalten, weil jeder befürchtete, dass es mit jeder Äußerung, die eventuell als Schuldeingeständnis zu werten wäre, rechtliche Konsequenzen geben könnte.

Insofern war das dann nach einer Woche das erste Mal, dass Worte gefunden wurden, nämlich in der Salvatorkirche anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes, wo neben den Angehörigen der Verstorbenen, neben den Traumatisierten, die schon in der Lage waren und auch vielen Einsatzhelferinnen und -helfern eben auch Menschen aus der Stadt zusammenkamen, um das endlich in Worte, in Gefühle fassen zu können, in der Gemeinschaft des Miteinanders. Das ist eben gerade für die Angehörigen der 21 Verstorbenen sehr wichtig gewesen. Und deshalb ist das zur Tradition geworden, zu einem wichtigen Punkt für die Angehörigen: einmal im Jahr, bevor alles andere drum herum stattfindet, in Ruhe für sich zusammen zu sein.

DOMRADIO.DE: Das scheint ja immer noch sehr wichtig zu sein für Angehörige und Freunde. Die kommen immer noch aus aller Welt, oder?

Winterberg: Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie kommen aus Spanien, sie kommen aus Italien. Ein Mann hat seine Frau verloren und kommt aus China. Die einzigen, die die Anreise jetzt nicht mehr machen, sind diejenigen aus Australien. Denn auch eine junge Frau aus Australien, die mit zwei Freundinnen zusammen auf Europatour war, ist verstorben. Deren Angehörige kommen nicht, aber ansonsten sind es gut die Hälfte der Angehörigen, die nach wie vor zusammenkommen, denen es nach wie vor wichtig ist, an diesem Ort der Salvatorkirche auch zusammenzukommen, diese Gemeinschaft untereinander zu haben, Besinnung zu haben mit bestimmten Ritualen wie Kerzen anzünden, dass wir beieinander stehen, einander die Hände reichen zum Abschluss.

Das sind Dinge, die den Angehörigen sehr wichtig sind. Das signalisieren sie auch Jahr für Jahr, weil wir natürlich nach zehn Jahren überlegt hatten: Wie lange soll es noch weitergehen? Ist das etwas, was man endlos fortschreiben kann? Aber da ist das eben doch sehr deutlich signalisiert worden. Insofern haben wir das jetzt auf bis zum 15. Jahr auf jeden Fall festgeschrieben. Dann werden wir sicherlich noch mal neu gucken.

Martin Winterberg

"Hier merken wir, dass die Gemeinschaft einander trägt."

DOMRADIO.DE: Für die Öffentlichkeit ist das Unglück ja schon längst Vergangenheit. Für die betroffenen Familien geht es weiter, Tag für Tag. Was sagen Sie denn heute den Angehörigen in Ihrer Predigt?

Winterberg: Es ist eben 13 Jahre jetzt her. Das Leben geht weiter, im wahrsten Sinne des Wortes. Und solche Einschnitte, die so ein Tag natürlich bringt, führen natürlich noch mal sehr vor Augen, was passiert ist. Das Hineinreißen dieser Lücke ist das eine. Das andere ist aber, dass es den Angehörigen immer noch sehr wichtig ist, zusammenzukommen, weil eben auch eine Form der Gemeinschaft entstanden ist, die vor einigen Jahren noch mal sehr schwierig war, als dann der Prozess anstand und der ja letzten Endes damit endete, dass gesagt wurde: Wir können keinen persönlich haftbar machen, wir können also keine direkte Schuld zuschreiben. Aber hier merken wir, dass die Gemeinschaft einander trägt. Und das ist gerade Zeiten von diesen Multi-Krisen, die für die Angehörigen eine existenzielle Krise auslösten – der Verlust ihres Kindes, Ehepartnern, Freundes, Freundin, Geschwisterkindes – wichtig, dass die Gemeinschaft sie zusammenhält, aber dass die Gemeinschaft sie auch stärkt. Das ist das, worauf ich damit hinauslaufe.

Das biblische Wort aus dem zweiten Korintherbrief im zwölften Kapitel: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig", das ist das biblische Wort am heutigen Tag, was über der Predigt steht: dass diese Gemeinschaft sie stärkt, dass diese Schwäche, die sie erfahren haben, in der Gemeinschaft dazu geworden ist, dass sie einander Halt geben, dass sie gemeinsam in der Trauer sind. So ist der 24. Juli eines jeden Jahres auch zu einem Kraftakt geworden. Das mag eine steile These sein. Aber genau das ist es für sie eben: das gemeinsame Tragen der Traurigkeit.

DOMRADIO.DE: Sie haben es gerade schon erwähnt: Der Strafprozess am Landgericht Düsseldorf wurde ja 2020 eingestellt, weil nach Überzeugung der Richter keinem der Angeklagten eine relevante individuelle Schuld zuzuschreiben war. Wie erleben Sie die Angehörigen? Spielt das noch eine große Rolle, dass es nach der Katastrophe in diesem Sinne keine Gerechtigkeit gegeben hat?

Winterberg: Das hat eine große Rolle gespielt. Man kann von der Verknüpfung vieler unglücklicher Dinge reden. Man kann davon reden, dass die Schuld von dem einen auf den anderen geschoben wurde, also auch die Verantwortung schon relativ früh vom einen zum anderen geschoben wurde. Insofern war gerade dieser Einschnitt, glaube ich, noch mal sehr belastend, als dann der Prozess losging und er eben auch damit endete, dass es keine individuelle Schuldzuschreibung gegeben hat.

Ich finde, dass Hannelore Kraft damals noch im Landtag, als es darum ging, wie es nun nach diesem Prozessende weitergeht, sehr gute Worte gefunden hat. "Das ist jetzt so, wir können damit auch nicht anders juristisch umgehen. Aber es bleibt eben die Frage, was uns trotz alledem einen Halt gibt." Eben nicht sagen zu können: Der ist schuld und daran kann man es festmachen, sondern dass sich das doch dahin überleitet, es ins Leben hineinzubekommen. Und dafür ist, glaube ich, dieser Gottesdienst immer wieder sehr wichtig. Neben dem, dass man sich danach dann an der Unglücksstelle trifft. Aber das ist dann doch eine öffentliche Veranstaltung, wo natürlich dann auch Verletzte, Traumatisierte, die nach wie vor auch darunter leiden und da oft auch Schwierigkeiten haben, das heute ins Leben hineinzukommen zusammenkommen.

Die Gedenktafel für die Opfer des Loveparade-Unglücks an der Duisburger Salvatorkirche / © Martin Winterberg (privat)
Die Gedenktafel für die Opfer des Loveparade-Unglücks an der Duisburger Salvatorkirche / © Martin Winterberg ( privat )

DOMRADIO.DE: Es gibt auch eine neue Gedenktafel, die können Sie uns vielleicht noch kurz erklären: "Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind." Diese Zeile aus Psalm 34 steht auf der neuen Gedenktafel, die Sie gerade außen an der Salvator-Kirche angebracht haben.

Winterberg: Sie nimmt das Motiv der Treppe auf. Es sind zwei Tafeln, die in einer Ecke einander gegenübergestellt sind. Das eine ist das biblische Zitat aus Psalm 34, das Sie gerade erwähnen, was über dem Gottesdienst stand. Das ist eine Bronze Tafel. Und diese Treppe, die ja auch vielen Menschen als Bild vor Augen ist, weil da, wo dieser Aufstieg auf das Geländer der Loveparade war, war auf der linken Seite hoch eine Treppe, wo einzelne versuchten, sich zu retten.

Auf der anderen Seite steht: "Die Angehörigen der Opfer, die Verletzten und Traumatisierten der Loveparade-Katastrophe des 24. Juli 2010 fanden in dieser Kirche Anteilnahme, Nähe und Mitgefühl. Die Salvator-Kirche war Ort des Ökumenischen Trauergottesdienstes am 31. Juli 2010." Wir haben die Tafel jetzt erst angebracht, weil die Turmseite saniert wurde, gut zehn Jahre lang. So ist es leider nun zu einer großen Verzögerung gekommen. Aber dieser Teil des Plateaus war eben über zehn Jahre nicht zugänglich, weil Steine vom Turm heruntergefallen waren und wir deshalb diesen Eingang komplett sperren mussten. Aber jetzt hängt sie und heute spielt sie im Gottesdienst dann auch noch mal eine Rolle.

Das Interview führte Heike Sicconi.

Loveparade-Unglück 2010

Am 24. Juli 2010 waren bei der Loveparade in Duisburg 21 Menschen bei einer Massenpanik im Tunnel eines ehemaligen Güterbahnhofes ums Leben gekommen, über 500 wurden verletzt.

Gedenken am Loveparade Unglücksort / © Marcel Kusch (dpa)
Gedenken am Loveparade Unglücksort / © Marcel Kusch ( dpa )
Quelle:
DR