Guido Horst zu 100 Tagen Franziskus

"Schonzeit ist irgendwann vorbei"

Papst Franziskus ist genau 100 Tage im Amt. Guido Horst, Chefredakteur des Vatican-magazins, berichtet von der Stimmung und Atmosphäre in Rom, die nach wie vor ungebrochen positiv ist.

Demut, Humor und Offenheit - Franziskus begeistert mit neuem Stil (dpa)
Demut, Humor und Offenheit - Franziskus begeistert mit neuem Stil / ( dpa )

domradio.de: 100 Tage Franziskus: Ist die Begeisterung bei den Römern immer noch so wie am 13. März unmittelbar nach seiner Wahl?

Horst: Ja, ungebrochen, nimmt sogar noch zu. Man merkt es hier bei jeder größeren Veranstaltung, ob das die Audienz ist. Stellen Sie sich das vor: Ein Gebet des Engel des Herrn am Sonntag, das dauert knapp zehn Minuten, da kommen 100.000 Leute. Das hält noch an und nimmt noch zu. Ob das immer so sein wird, weiß man nicht. Aber es ist einfach völlig erstaunlich. Woran liegt das? Papst Franziskus ist ein Mann, der aus Lateinamerika etwas mitbringt, das man so bezeichnen könnte: direkt kommunizieren, auf die Leute zugehen, unter ihnen sein, Behinderte küssen, Menschen umarmen. Das ist ein Akzent, den er da setzt und mitgebracht hat, der in der lateinamerikanischen Kirche sehr präsent ist. Man muss bedenken, dass diese Pfingstkirchen, dass diese Evangelikalen, dass die charismatischen Sekten der katholischen Kirche ungefähr 40% der Mitglieder weggenommen haben. Und die Kirche antwortet darauf, indem sie jetzt wirklich intensiver auf die Menschen zugeht – ein Stil, der uns in Europa nicht so bekannt ist. Und das führt Franziskus hier vor, denn die Italiener – ich sag es mal etwas platt – „fahren drauf ab“, zumal sich Bergoglio auch einen Papstnamen gegeben hat, der bei den Italienern wahnsinnig populär ist, nämlich Francesco.

domradio.de: Sind denn die Leute in Castel Gandolfo auch so euphorisch, jetzt wo klar ist, dass es im Juli dort keine Generalaudienzen geben und somit auch der Umsatz in den Geschäften dort nicht besonders groß sein wird?

Horst: Sie haben das Haar in der Suppe gefunden. Die Menschen in Castel Gandolfo sind schon sehr enttäuscht. Wenn Papst Benedikt im Sommer drei Monate dort war oder sogar noch ein bisschen länger, dann war das natürlich ein wahnsinniger Zufluss für das kleine Örtchen dort oben in den Albaner Bergen – an Menschen, an Geld, an Einkünften. Jetzt wird Franziskus ein paar Tage in Castel Gandolfo sein, um sich auf die Reise nach Brasilien vorzubereiten. Aber die meiste Zeit wird er im Vatikan-Hotel Santa Marta verbringen. Das muss man einfach sagen: Die Menschen in Castel Gandolfo sind enttäuscht.

domradio.de: Sie haben einen Artikel in der Tagespost geschrieben mit dem Titel „Nichts ‚gemacht‘, alles verändert“. Wie genau meinen Sie das?

Horst: Wenn man mal ein Jahr zurückschaut, was war das für eine Stimmung in Rom? Wir hatten weiter zurückliegend den Fall Williamson gehabt, also den Ärger um die Aufhebung der Exkommunikation eines ziemlich durchgeknallten Lefebvre-Bischofs. Wir hatten die Missbrauchskrise und dann noch letztes Jahr Vatileaks, das heißt, diese Dokumentenflucht aus dem Appartement des Papstes. Es war die Rede von Seilschaften im Vatikan, es war die Rede von einer unfähigen Spitze im Staatssekretariat. Es war eine lastende, drückende Stimmung. Und diese Stimmung ist völlig weg. Ein sehr populärer Fernsehmoderator hat sich neulich noch einmal drei Stunden Zeit genommen, diese ganzen Skandale, die wir vor einem Jahr abarbeiten mussten, wieder hoch zu kochen. Es hat niemanden interessiert. Man redet auch nicht mehr darüber. Natürlich hat Papst Bergoglio von den Kardinälen des Vorkonklaves, der Generalkongregationen, den Auftrag erhalten, die römische Kurie zu reformieren oder wieder Schwung in den Laden zu bringen. Aber man weiß es ja, er hat acht Kardinäle berufen, mit denen er sich irgendwann im Oktober zusammensetzen wird. Es gibt kleinere Personalentscheidungen, die er schon gefällt hat. Viele sind aber gar nicht nach Deutschland gedrungen, weil es sich nicht um große wichtige Personalentscheidungen gehandelt hat. Die wichtigste Entscheidung, über die hier viel geredet wird, ist die, in Santa Marta wohnen zu bleiben. Also das Licht oben am Apostolischen Palast in der Bibliothek des Papstes, das brennt nicht mehr abends. Aber auch da hat er nichts gemacht. Er ist noch nicht einmal umgezogen. Also Papst Franziskus hat das Wunder vollbracht, durch „Nichtstun“ alles zu verändern. Das klingt paradox, ist aber genau so.

domradio.de: Köpfe gerollt – wie von einigen prophezeit – sind im Vatikan ja bislang noch nicht, denkt man zum Beispiel an die unterschiedlichen liturgischen Auffassungen und den Stil. Ist damit noch zu rechnen, oder führt Franziskus die Kurienreform anders aus als erwartet?

Horst: Er ist nicht einer, der mit dem eisernen Besen durch den Vatikan geht. Also selbst jemand, der vielleicht nicht auf seiner Linie liegt, Zeremonienmeister Marini, der ist geblieben und leitet und gestaltet weiterhin die Liturgien des Papstes, natürlich in Absprache mit Franziskus. Es wird – und dafür sorgen schon theologische Gründe – am Ende natürlich nötig sein, einige wichtige Kurienleute zu ersetzen. Also Kardinal Bertone, der Staatssekretär, hat die Altersgrenze erreicht und muss ausgetauscht werden. Dann wird es auch Wechsel geben an der Spitze einiger Kongregationen, wo man bis 78, bis 80 Jahre maximal Präfekt sein kann, aber dann muss der Nachfolger her. Also es wird sicherlich einiges geschehen, und diese Personalentscheidungen werden wir uns ganz genau anschauen müssen. Die werden Signalwirkung haben, aber das kann noch Monate dauern.

domradio.de: Schauen wir mal auf die Predigten und Ansprachen des neuen Pontifex. Da hat er ja durchaus einige Reizthemen angeschnitten. Er warnte vor einer „Diktatur des Relativismus“, sprach von „Satelliten- und Wohnzimmerchristen“ und davon, dass es nicht möglich sei, Jesus außerhalb der Kirche zu finden. Bei Benedikt hätte es längst schon einen Aufschrei zum Beispiel deutscher Theologen gegeben. Warum ist das bei Franziskus nicht so? Besticht er durch seine Art?

Horst: Ja! Aber das war bei Benedikt auch so, 2005. Papst Ratzinger hatte Monate Schonfrist, was die Medien angeht. Er hat natürlich von Anfang an klar und deutlich gepredigt. Und Ratzinger ist ein moderner Theologe, der auch differenzieren kann, der auch die Dinge mehr in der Breite als Hochschullehrer, als Professor darstellt. Da war alles enthalten. Die Linie ist bei beiden Päpsten völlig die gleiche. Aber Ratzinger hat auf einem sehr hohen Niveau die Dinge dargestellt. Bergoglio, Papst Franziskus sagt es sehr einfach. Aber noch wagen die Medien nicht zuzuschlagen, wenn er also laufend vor dem Teufel warnt, wenn er auch die Heilsuniversalität der katholischen Kirche betont, wenn er ganz einfach katholische Wahrheiten in den Raum stellt, ohne sie in einem professoralen Stil jetzt weiter auszuführen, sondern in aller Einfachheit mit klaren Worten, aber immer sehr positiv – es ist eine sehr positive Botschaft, die Franziskus zu den Menschen transportiert. Die Hoffnung, die Freude, er spricht sehr viel von der Freude. Man darf ihn jetzt nicht nur lesen als einen, der vor dem Teufel warnt oder vor dem Egoismus oder vor der Selbstreferentialität der Kirche, also diese Selbstgenügsamkeit und Selbstbezüglichkeit der Kirche, sondern rauszugehen, zu den Menschen zu gehen. Das kommt sehr gut an. Irgendwann – das ist nun mal so in unserer Mediengesellschaft – werden die Medien sagen: So, jetzt ist aber die Schonzeit vorbei und jetzt knöpfen wir ihn uns vor.

Das Gespräch führte Jan Hendrik Stens


Quelle:
DR