Flüchtlingsbischof Heße fordert gemeinsame europäische Migrationspolitik

Haben wir das geschafft, Herr Erzbischof?

"Wir schaffen das." Ein Satz, der Deutschland verändert hat. Vor vier Jahren hat ihn Angela Merkel in einer Pressekonferenz gesagt. Das, was seitdem geschehen ist, ordnet der Flüchtlingsbeauftragte der Bischofskonferenz Erzbischof Stefan Heße ein.

Erzbischof Stefan Heße, Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (m.), spricht beim Besuch in einem inoffiziellen Flüchtlingscamp in der libanesischen Stadt Jdita mit einem syrischen Flüchtling (l.). Eine Caritas-Mitarbeiterin übersetzt. (KNA)
Erzbischof Stefan Heße, Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (m.), spricht beim Besuch in einem inoffiziellen Flüchtlingscamp in der libanesischen Stadt Jdita mit einem syrischen Flüchtling (l.). Eine Caritas-Mitarbeiterin übersetzt. / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Vor vier Jahren sagte Angela Merkel "Wir schaffen das." Haben wir es geschafft, Herr Erzbischof?

Erzbischof Dr. Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg und Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz): Natürlich nicht. Wir haben vieles geschafft, aber wir haben auch noch vieles vor uns. Man muss bedenken: Der Kontext, in dem die Bundeskanzlerin damals diesen Satz gesagt, war auch die Wiedervereinigung und sicherlich auch die damaligen Finanzkrise. Wir haben ja in unserem Land sehr viel geschafft und wir haben auch im Bereich der Flüchtlingsarbeit ganz viel geschafft.

So haben wir zum Beispiel 2015 eine humanitäre Katastrophe in Europa verhindert. Ich glaube, da ist ganz viel geleistet worden. Aber es ist immer noch viel zu tun und man muss einfach ganz nüchtern mit den Dingen umgehen: Sich freuen über das, was geschafft worden ist – aber auch weiter an dem arbeiten, was noch vor uns liegt.

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns auf die Kirche schauen. Was haben Sie da konkret für Erfahrungen gemacht, in der Bischofskonferenz, aber auch bei sich im Erzbistum in Hamburg?

Erzbischof Heße: Ich fand überwältigend, wie viele Menschen sich in unseren Diözesen von Nord bis Süd und Ost bis West für die Flüchtlinge eingesetzt haben. Ich kann das zum Beispiel ganz konkret sagen hier für Hamburg. Wir hatten damals eine große Notlage, weil hier viele Flüchtlinge "hängengeblieben" sind. Die wollten eigentlich weiter nach Skandinavien. Dann waren die Grenzen dort zu und sind plötzlich hier gewesen, standen oft abends auf dem Hauptbahnhof.

Hier vom Dom aus ist es gar nicht weit bis zum Hauptbahnhof. Wir haben dann in ökumenischer Verbundenheit unseren großen Raum beim Dom geöffnet, zur Verfügung gestellt und es haben über Monate Flüchtlinge hier über Nacht ein Obdach gefunden und etwas zu essen bekommen. Ich habe tolle Gespräche führen können und habe an dem Schicksal dieser Menschen teilgenommen. Ich erinnere mich zum Beispiel noch daran, dass da plötzlich ein Vater nach vielen Monaten seinen minderjährigen Sohn wiedergetroffen hat. Das sind Glücksmomente, die ich immer noch mit dieser großen Arbeit verbinde. Das gab es überall. Das waren tausende von Menschen.

Wenn wir ökumenisch darauf schauen, katholisch und evangelisch gemeinsam, dann geht es an die hunderttausend Menschen, die da mitgearbeitet haben. Bis heute haben wir in unseren katholischen Diözesen alleine 5.000 Menschen, die hauptamtlich für Flüchtlinge da sind und arbeiten. Alle unsere Diözesen – je nach Finanzstärke – investieren ziemlich viel in die Arbeit hier vor Ort, aber auch in Flüchtlingshilfe internationaler Art zum Beispiel zur Bekämpfung der Fluchtursachen.

DOMRADIO.DE: Wenn wir zurückdenken an diese Zeit im Jahr 2015. Da gab es diese unglaublich große Euphorie. Die Züge mit denen die Flüchtlinge in Deutschland angekommen sind, wurden regelrecht umjubelt. Unter anderem durch die Silvesternacht am Kölner Dom gab es dann mehr und mehr einen Stimmungsumschwung. Der Rechtspopulismus ist angestiegen. Hat Sie das überrascht oder ist das zu erwarten gewesen?

Erzbischof Heße: Es hängt immer davon ab, wie man auf die Dinge schaut. Ich glaube, man muss damit rechnen, dass es auch solche Stimmen gibt. Es ist ja auch wahr, dass das alles eine große Herausforderung und Aufgabe ist. Das kann man nicht mit dem kleinen Finger machen, sondern das ist eine große Aufgabe, die wir stemmen müssen. Es ist eine Aufgabe, die auch nicht in Kürze zu bewältigen ist. Wir haben damals die tollen Bilder der Willkommens gehabt. Das war wirklich eine Euphorie. Gottseidank gab es diese Euphorie, denn wenn der Start gut läuft, dann kann auch weiteres gut laufen.

Aber mittlerweile sind wir ja von dem Willkommen einen Schritt weiter. Wir sprechen über Integration. Und jeder, der ein bisschen Ahnung von Integration hat, der kann sich vorstellen: Das ist etwas, was lange andauert. Integration ist ein Prozess. Integration muss wachsen. Deswegen gibt es natürlich auch Bedenkenträger. Es gibt auch viele Menschen mit Sorgen. Diejenigen, die rechte Parteien wählen, die bringen damit auch ihre Sorgen und ihre Nöte zum Ausdruck. Die muss man ernst nehmen.

Wichtig scheint mir zu sein, dass wir uns da in unserer Gesellschaft nicht auseinanderdividieren lassen, sondern dass wir im Gespräch sind. Das ist auch eine Aufgabe für unsere Kirchengemeinden. Denn Menschen mit Sorgen und Ängsten die gibt es natürlich auch in unserer Kirchgemeinde. Es ist ja nicht so, als würden die jetzt alle Hurra schreien. Sondern da gibt es auch viele sorgenvolle Menschen. Dass wir da miteinander gemeinsam auf dem Weg bleiben und uns nicht gegenseitig die Wahrheit absprechen, das wäre mir ein großes Anliegen.

DOMRADIO.DE: Wir müssen in der aktuellen Lage auch noch einmal kurz auf die Seenotrettung schauen und das ansprechen. Wir haben die Situation, dass wieder – die Zahlen nehmen ja zu – tausende Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Italien oder Malta haben immer wieder ihre Häfen geschlossen. Was sagen wir als Kirche, was sagen wir als Christen dazu?

Erzbischof Heße: Das erste, was wir sagen ist: Jemand der in Not gerät, der in Seenot ist, den kann man nicht sich selber überlassen, sondern dem muss man helfen. Den muss man retten. Das zweite, was ich sagen würde ist: Die Menschen zum Beispiel nach Libyen zurückzuschicken kann keine Alternative sein. Libyen ist kein sicheres Land. Das sage jetzt nicht nur ich, sondern das sagen mir auch westliche Diplomaten. Die humanitären Zustände dort sind nicht tragbar. Deswegen kann der Rückweg dorthin kein Weg sein.

Mir wäre es ein Anliegen, dass wir eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik entwickeln und das fordert alle. Es kann nicht sein, dass wir uns immer, wenn ein Boot kommt, darüber aufregen und austauschen: Wer nimmt fünf? Und wer nimmt die anderen zehn? Sondern wir müssen grundsätzliche Perspektiven entwickeln. Da müssen alle in die Pflicht genommen werden und alle ihren Beitrag leisten – zum Wohle dieser Menschen, die ja keine Spazierfahrt über das Mittelmeer machen wollen. Sie sind in wirklicher Lebensnot. Nicht nur auf dem Meer, sondern auch schon davor. Sie verlassen ja ihre Heimat, weil es politisch keine Perspektiven gibt, weil es für sie und ihre Kinder gar keine Perspektiven gibt.

Deswegen diesen Menschen zu helfen, das ist das Gebot der Stunde. Das müssen wir politisch und kirchlich mit den NGOs alle gemeinsam hinbekommen.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Quelle:
DR