Kardinal Woelki über 40 Jahre "Cap Anamur" und Flüchtlingshilfe heute

"Zuwanderung bedarf einer nachhaltigen Lösung"

"Man muss den Mut haben, für etwas einzustehen. Das habe ich von Rupert Neudeck gelernt". Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki blickt im Interview auf 40 Jahre Cap Anamur und die aktuelle Lage der Flüchtlingshilfe in Europa.

Rainer Maria Kardinal Woelki mit einer Rettungsweste (DR)
Rainer Maria Kardinal Woelki mit einer Rettungsweste / ( DR )

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie den Menschen Rupert Neudeck erlebt?

Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Das war ein bis in die Haarspitzen engagierter Mann. Er war ein Mann, der eine Vision hatte, der für diese Vision durchs Feuer ging und diese Vision lebte - mit vollem Einsatz und vollem Herzen. Er investierte Herzblut in alles, was er als Not und Notwendiges erkannte.

DOMRADIO.DE: Haben Sie je so etwas wie Müdigkeit oder Resignation an ihm ausgemacht?

Woelki: Müdigkeit und Resignation waren Rupert Neudeck völlig unbekannt. Das sind Worte, die er allenfalls schreiben konnte, die er vielleicht auch bei anderen Menschen feststellte, aber nicht mit Blick auf die eigene Person. Er war vital und lebte das, wofür er stand. Er lebte für seine Idee, für seine Vision. Er war bis ins hohe Alter hinein von seiner Vision beseelt. Dafür setzte er alle seine Kräfte ein.

DOMRADIO.DE: 2016 ist Rupert Neudeck gestorben. Sie haben damals die Trauermesse gehalten und in Ihrer Predigt gesagt: "Wer in seine blauen Augen blickte, der musste stark sein." Wie haben Sie das gemeint?

Woelki: Die Augen eines Menschen sind ja gewissermaßen die Eingangstür, das Einfallstor der Seele. Und die Augen von Rupert Neudeck konnten mild und barmherzig sein. Sie konnten aber auch funkeln und entschlossen und entschieden wirken. Sie brachten eigentlich immer auch das zum Ausdruck, was gerade in ihm vorging. Es sind die Augen, die ihn mitleiderfüllt die Menschen, die Boat People überall auf der Welt haben anschauen lassen. Aber es waren auch die Augen der Entschiedenheit, der Stärke und der Entschlossenheit, mit denen er sich dann manchmal auch so energisch, dass es fast zornig wirkte, für die Rechte dieser Menschen einsetzte.

DOMRADIO.DE: 2015 hatte er ja ein ganz konkretes Anliegen an Sie. Er wollte gemeinsam mit Ihnen etwas für die Mittelmeer-Flüchtlinge tun. Rupert Neudeck galt auch als ein wenig stur. Wie konnten Sie da mit ihm zusammenarbeiten?

Woelki: Weil ich vielleicht auch in manchem stur bin? Das muss man auch sein, damit man etwas erreicht und umsetzen kann. Wenn man immer nur schaut, was gerade opportun ist und wenn man immer nur danach trachtet, geradewegs anzukommen und nur das zu sagen, was gerade "en vogue" ist, dann kommt man nicht weiter. Man muss eine Vision haben, man muss eine Klarheit haben und man muss den Mut haben, auch dafür einzustehen und einzutreten. Das habe ich von Rupert Neudeck gelernt.

Ich würde das aber nicht als stur bezeichnen. Vielmehr war er überzeugt von seiner Sache. Weil er davon überzeugt war, dass er den Menschen helfen musste, dass ihnen oftmals Unrecht geschieht, dass sie zu Unrecht in solche Situationen hineingekommen sind, dass sie Opfer von Krieg und Terror sind und dass sie deshalb flüchten und ihre Heimat aufgeben mussten, konnte er "stur" sein. Aber er hat das mit Konsequenz verfolgt und umgesetzt.

DOMRADIO.DE: Rupert Neudeck wollte als junger Mann Jesuit werden. Er hat sich dann für ein weltliches Leben entschieden. Haben Sie etwas von seinem Glauben mitbekommen, etwa inwieweit dieser auch Motivation für sein Handeln war?

Woelki: Wir haben nie explizit darüber gesprochen. Aber er hat immer als Christ gelebt und als Christ gehandelt. Er hat mir auch in den Gesprächen, die wir miteinander mit Blick auf die Flüchtlingssituation geführt haben, gesagt, er möchte dass "meine Kirche" mit dabei ist und dass "meine Kirche" hier auch eine klare Position vertritt. Insofern glaube ich, dass er sich immer auch als Christ verstanden hat und dass all seine Hilfe und seine Motivation ganz tief aus dem Evangelium Jesu heraus gekommen sind.

DOMRADIO.DE: Sie haben dann gemeinsam im Erzbistum Köln 23.000 Glockenschläge erklingen lassen. Ein Glockenschlag für jeden Menschen, der von 2000 bis 2015 im Mittelmeer ertrunken war. Warum war das damals so wichtig?

Woelki: Das ist doch eine schier wahnsinnige Zahl, dass da in diesen Jahren 23.000 Menschen einfach schlichtweg ertrinken! Das ist doch ein wahnsinniger Schock vor den Toren Europas! Jedes einzelne Lebensschicksal steht für einen Menschen, der zu früh sterben musste, der sein Leben nicht so leben konnte, wie er es verdient hätte und wie es sinnvoll und gut gewesen wäre. Es war klar 2015: Da musste etwas getan werden. Da musste ein Zeichen gesetzt werden! Ein notwendiges Signal musste gegeben werden in die Gesellschaft hinein, dass dieses Sterben im Mittelmeer endlich aufzuhören hatte. Glücklicherweise haben wir heute eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit für dieses Thema. Und ich denke, dass das auch maßgeblich ein Verdienst des Lebenswerkes von Rupert Neudeck ist.

DOMRADIO.DE: Allerdings geht das Sterben seitdem weiter. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute Bilder von blockierten Schiffen sehen und Seenothelfern, die auch noch dafür kriminalisiert werden, dass sie Menschen aus höchster Lebensgefahr retten?

Woelki: Es ist und bleibt eine Schande für Europa, dass dies so ist. In der gegenwärtigen politischen Lage treten allzu oft symbolische Taten an die Stelle von substanziellen Debatten. Das verschlimmert das angespannte Klima in dieser Frage nur noch. Links wie rechts bestimmen oftmals die Scharfmacher den Diskurs. Es ist nur ein ganz schmaler Grat zwischen dem Gebot der Menschlichkeit und dem Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten, die mit den Problemen nicht länger alleingelassen werden wollen. Deshalb: Wenn Menschen sich schon auf marode Boote begeben, um auf See hinauszufahren, dann ist das alles schon viel zu spät. Das Problem muss sehr viel früher und sehr viel entschiedener angegangen werden.

DOMRADIO.DE: Die EU ist tief zerstritten über den Umgang mit dem Problem. Keiner will die Menschen haben, die da übers Mittelmeer kommen. Wer versagt da?

Woelki: Auf jeden Fall die Europäische Union, die ja immerhin Friedensnobelpreisträger ist. Wir sind als Europäer ein direkter Nachbar von unseren afrikanischen Freunden und Freundinnen. Europa ist der direkte Nachbar von Afrika und Europa ist ein wohlhabender, reicher Kontinent. Jeder der europäischen Staaten trägt deshalb hier eine ganz besondere Verantwortung, gerade auch dann, wenn wir immer wieder hervorheben, dass wir doch der großen abendländisch- christlichen Tradition entspringen und aus ihr hervorgegangen sind. Nochmals: Wenn Menschen sich aus Verzweiflung auf die maroden Boote des Mittelmeeres begeben, dann ist es schon viel zu spät. Ganz egal ob sie vor Krieg und vor Terror fliehen oder weil die sozialen Lebensumstände, das Gefälle von Armut und Reichtum, die reine Not und Existenzangst sie dazu treiben.

Es braucht deshalb konkrete legale Einwanderungsmöglichkeiten, Resettlement-Programme hier in Europa und nach Europa. Es braucht konkrete Hilfe zur Selbsthilfe in den Regionen Afrikas, nicht einfach nur eine Scheckbuch-Politik mit der Gießkanne. Es muss gelingen, dort Menschen ein dauerhaftes Auskommen zu sichern, damit auch dort Menschen in Frieden und in sozialer Gerechtigkeit und im Wohlstand leben können.

DOMRADIO.DE: Welchen Beitrag kann die Kirche leisten zu einer Lösung, die das Leben der Menschen in den Mittelpunkt rückt und ihre Würde wahrt?

Woelki: Die Kirche ist in den Ländern Afrikas sehr präsent, sie unterstützt dort Menschen vor allen Dingen in Fragen der Bildung. Das ist überall auf der Welt der Schlüssel zum Erfolg. Dort, wo Bildung ist, kann sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickeln. Dort, wo sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt, können auch Gerechtigkeit und Frieden, Wohlstand und Verständigung und soziale Gerechtigkeit wachsen. Deshalb ist Bildung ist das Entscheidende.

Die Kirche hilft sicherlich auch durch das Gesundheitswesen. Sie hilft sicher durch viele Beratungsmöglichkeiten und durch Spenden. Und sie hilft auch sehr der oftmals unterdrückten weiblichen Bevölkerung Afrikas. Hier in Deutschland unterhalten wir darüber hinaus zahlreiche Einrichtungen zur Integration von Migranten, von Menschen, die zu uns gekommen sind und die heute unsere neuen Nachbarn sind.

Ich erinnere hier an unser Klarissenkloster in Köln-Kalk. Ich erinnere an St. Pantaleon, wo wir eine entsprechende Integrationsmöglichkeit geschaffen haben. Ich erinnere an das jetzt gerade neu aufgelegte Programm "Nest", an dem wir uns im Bistum beteiligen. Außerdem werden wir als Kirche auch weiter immer wieder politisch darauf aufmerksam machen, dass es für Zuwanderung endlich einer nachhaltigen Lösung bedarf. Dafür müssen wir alle einstehen. Alle in Europa und alle Länder Europas müssen jetzt endlich beweisen, dass die EU einmal zu Recht den Titel eines Friedensnobelpreisträgers erhalten hat.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Christel und Rupert Neudeck im März 2016 / © Rudolf Wichert (KNA)
Christel und Rupert Neudeck im März 2016 / © Rudolf Wichert ( KNA )

Trauerfeier für Rupert Neudeck / © Oliver Berg (dpa)
Trauerfeier für Rupert Neudeck / © Oliver Berg ( dpa )

Boatpeople werden von der Cap Anamur gerettet / © Jürgen Escher (DR)
Boatpeople werden von der Cap Anamur gerettet / © Jürgen Escher ( DR )

Ankunft des Rettungsschiffs "Cap Anamur" mit 285 vietnamesischen Bootsflüchtlingen / © Volkmar Schulz / Keystone (epd)
Ankunft des Rettungsschiffs "Cap Anamur" mit 285 vietnamesischen Bootsflüchtlingen / © Volkmar Schulz / Keystone ( epd )
Quelle:
DR
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