Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) hat zu weiteren Anstrengungen bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufgerufen. Das gelte für die Barrierefreiheit, die gleichberechtigte Teilhabe im Arbeitsleben und in Sachen inklusive Demokratie, sagte Heil am Dienstagabend in Berlin.
Er äußerte sich bei einem Festakt zu "10 Jahre Behindertenrechtskonvention in Deutschland". "Am 26. März 2009 wurde ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben", sagte Heil. Dies sei "ein Meilenstein, aber kein Schlussstein".
Gleichberechtigte Teilhabe in der Arbeitswelt
An der Feier nahmen der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel (SPD), sowie Amtsvorgänger und Vertreter von Verbänden und Interessengruppen teil. Der Bundesminister würdigte besonders die Verdienste von Theresia Degener, die von 2011 bis 2018 Mitglied und zeitweise Vorsitzende des UN-Ausschusses für Behindertenrechte war.
Zur Umsetzung der Konvention verabschiedete die Bundesregierung 2011 und 2016 Nationale Aktionspläne, die eine Gesamtstrategie sowie 175 Maßnahmen aller Bundesministerien umfassen. Dazu gehören beschäftigungspolitische Maßnahmen, ein Kennzeichnungssystem für barrierefreien Tourismus oder die Förderung des Behindertensports.
Heil mahnte, die Barrierefreiheit auch in der Digitalisierung umzusetzen sowie bei der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Gleichberechtigte Teilhabe in der Arbeitswelt sei mehr als Broterwerb, sondern Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, betonte er.
Deshalb sei es "ein Armutszeugnis", dass immer noch 40.000 Betriebe keine Schwerbehinderten eingestellt hätten. "Wir müssen im Bereich der Inklusion der Erwerbsarbeit noch ein gutes Stück vorankommen", so der SPD-Minister.
Heil: "Wir haben noch einen weiten Weg vor uns"
Es sei viel geschafft worden, "aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns", so Heil. Die Ungeduld der Betroffenen müsse dabei Antrieb sein. Die Bundesregierung habe sich zur Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe verpflichtet.
Heil begrüßte ausdrücklich, dass die "unwürdigen und unseligen Wahlrechtsausschlüsse" nun überwunden seien - auch wenn dies für die Europawahl noch nicht umgesetzt werden könne.
Die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmtes Leben und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, äußerte die Hoffnung, "dass die Verbindlichkeit bei der Anwendung der Konvention immer größer wird".
Durch die UN-Konvention gebe es einen klaren Bezugspunkt und mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Sie forderte mehr Menschen mit Behinderung in den unterschiedlichen Lebensbereichen wie Politik oder Wirtschaft.
Dusel: "Befriedigend bis ausreichend"
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, zog hingegen eine überwiegend kritische Bilanz der vergangenen zehn Jahre. Er sagte dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland" (Dienstag), er gebe Deutschland nur die Note "befriedigend bis ausreichend". Kritik kam auch von den Grünen und Sozialverbänden.
Ziel der UN-Konvention, zu deren Umsetzung sich Deutschland verpflichtet hat, ist eine selbstbestimmte und umfassende Teilhabe behinderter Menschen am öffentlichen und privaten Leben unter dem Stichwort "Inklusion". Die Themen sind etwa Barrierefreiheit im Wohnungsbau, im öffentlichen Raum und im Internet, gemeinsamer Schulbesuch oder mehr reguläre Jobs für Menschen mit Behinderungen.
Barrierefreiheit im Wohnungsbau müsse wie Brandschutz zum Standard werden. Jedes Kino und Café, das nicht barrierefrei ist, schließe Menschen aus, sagte Dusel dem "RedaktionsNetzwerk". Er erklärte am Beispiel Arbeitsmarkt, einerseits seien mit 1,2 Millionen so viele schwerbehinderte Menschen in einem regulären Job beschäftigt wie nie zuvor. Andererseits seien behinderte Menschen weiterhin deutlich häufiger und länger arbeitslos als Menschen ohne Einschränkungen.
Ein Viertel aller Arbeitgeber, die dazu verpflichtet seien, habe niemanden mit einer Behinderung eingestellt, sondern zahle die Ausgleichsabgabe. "Das ist inakzeptabel", kritisierte der Beauftragte der Bundesregierung und forderte schärfere Regelungen.
"Inklusive Gesellschaft haben wir noch lange nicht"
Die Grünen forderten anlässlich des Jahrestages die Abschaffung des sogenannten Mehrkosten-Vorbehalts, der in vielen Fällen die Finanzierung selbstständigen Wohnens für behinderte Menschen verhindert.
Die Regelung zwinge die Menschen in Heime, sagte die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Dienstag). Der UN-Konvention zufolge darf niemand gezwungen werden, gegen seinen Willen in einer besonderen Wohnform zu leben.
Nach einer infas-Untersuchung im Auftrag von "Aktion Mensch" und der Wochenzeitung "Die Zeit" wollen 85 Prozent der Bundesbürger, dass Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt zusammenleben.
Dafür dass Kinder mit und ohne Beeinträchtigung zusammen aufwachsen, sprachen sich 94 Prozent aus - aber nur 66 Prozent wollen, dass die Kinder auch gemeinsam unterrichtet werden.
Sozialverbände sahen skeptisch auf den Jahrestag. Diakonie-Vorstand Maria Loheide sah keinen Anlass zu feiern. "Eine inklusive Gesellschaft haben wir noch lange nicht", erklärte sie.
Ähnlich äußerten sich die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, und der AWO-Bundesverband. "Menschen mit Behinderungen sehen sich tagtäglich mit kaum zu überwindenden Hindernissen konfrontiert", bilanzierte Vorstandsmitglied Brigitte Döcker.