DOMRADIO.DE: Im Vergleich zu 2021 bzw. zum Vorjahr hat sich die Lage für Christen und Christinnen in der Welt eher verschlechtert oder verbessert?
Markus Rode (Hilfswerk Open Doors): Die Lage hat sich leider weiter verschlechtert. Die Intensität der Verfolgung und leider auch das Ausmaß haben weiter zugenommen. Wir haben dieses Jahr im Weltverfolgungsindex in den 50 Ländern der härtesten Verfolgung rund 312 Millionen Christen, die unter einem sehr hohen bis extremen Maß an Verfolgung leiden.
DOMRADIO.DE: Welche Länder gehören zu den 50 mit der härtesten Verfolgung?
Rode: Das ist Afghanistan, das Nordkorea nach 20 Jahren an der Spitze des Verfolgungsindex abgelöst hat, und es geht dann weiter mit Somalia, Libyen und noch vielen weiteren Ländern, in denen Christen extrem unter Druck stehen.
DOMRADIO.DE: Ein wichtiges Ereignis war die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan. Wir erinnern uns an die Menschen, die vor wenigen Wochen und Monaten versucht haben, das Land fluchtartig zu verlassen. Wie genau spielt das in den Index mit hinein?
Rode: Das spielt insofern eine Rolle, dass das Maß der Gewalt noch mehr zugenommen hat und auch der Druck. Man muss sich vorstellen, in Afghanistan gibt es ja nur Christen, die konvertiert sind. Das Taliban-Regime hat im Prinzip einen Chef, das heißt den neuen Präsidenten Mullah Mohammed Hassan Achund, der sozusagen der oberste Richter an den Scharia-Gerichtshöfen der Taliban war. Apostasie, der Abfall vom Glauben, ist ein todeswürdiges Verbrechen. Insofern werden Christen gerade während wir sprechen, gesucht, ermordet, Frauen werden vergewaltigt - und zwar extrem systematisch.
DOMRADIO.DE: Hat dieser Sieg der Taliban den Islamisten in anderen Regionen Auftrieb gegeben?
Rode: Es gab in den sozialen Netzwerken richtige Jubel-Partys. Es hieß, Islamisten aus aller Welt haben das gefeiert und deutlich gemacht: Ihr habt die westlichen Streitkräfte vertrieben, die Macht übernommen und seid Sieger über den Westen. Das wollen wir auch. Das ist eine Riesenermutigung und Rückenwind, besonders für viele Dschihadisten-Gruppen in Afrika und Asien.
DOMRADIO.DE: Hat die Pandemie Auswirkungen auf die Verfolgung von Christinnen und Christen weltweit?
Rode: Sie hat schon Auswirkungen gehabt: Christen werden benachteiligt, wenn es um Hilfslieferungen geht. Aber was wir auch feststellen, ist, dass in einigen Ländern die Pandemie genutzt wird, um zum Beispiel Hauskirchen weiter geschlossen zu halten. Alle anderen dürfen sich treffen, Hauskirchen sind verboten. Oder der Lockdown wird teilweise ausgenutzt von islamistischen Gruppen, besonders in "failed states" in Afrika, wo Korruption herrscht und die Bevölkerung kaum geschützt wird, um gegen Christen vorzugehen und sie zu ermorden. Auch das ist eine Auswirkung der Pandemie.
DOMRADIO.DE: Das sind schlimme Nachrichten. Man fühlt sich da so ein bisschen ohnmächtig als einzelne Person. Was können wir denn tun oder was kann der einzelne Mensch tun?
Rode: Das ist eine große Herausforderung. Aber das, was Christen als erstes erbitten, ist: Bitte betet für uns in dieser extremen Situation, damit wir in unserem Glauben standhaft bleiben. Darüber hinaus ist ganz klar: Christen brauchen auch Unterstützung und Hilfe in vielen Bereichen ihres Lebens. Sie werden in den Untergrund gedrängt und da geht es um Nothilfe. Da geht es auch um Unterstützung von neuen christlichen Gemeinschaften. Dass sie Bibeln bekommen, das ist das, was Christen gerne möchten für ihren Glauben. Aber auch, dass Trauerarbeit stattfindet. Das wollen wir als Open Doors alles in unserem Dienst tun. Aber hier sind wir nur eine Brücke und wir brauchen viele Unterstützer, die das mit ermöglichen.
DOMRADIO.DE: Bringt es etwas, wenn man versucht auf die Politik Druck zu machen, damit sie sich mehr für verfolgte Christen einsetzt?
Rode: Ich glaube, Druck bringt gar nichts. Am Ende geht es um die Frage der Identifikation: Wie identifiziere ich mich mit den Menschen, die das betrifft? Es gibt vereinzelt Politiker, die das wahrgenommen haben. Aber ich glaube, dass die aktuelle Situation wieder ein ganz großes Thema für die Politik ist, endlich wesentlich stärker aktiv zu werden und das auch bei den Herrschern und bei den Gruppen anzusprechen in Ländern wie China oder Indien, mit denen man Handel treibt. Hier kann man nicht weiter darüber hinwegsehen.
Das Interview führte Michelle Olion.