DOMRADIO.DE: An diesem Donnerstag ist Weltflüchtlingstag. World Vision hat einen Bericht erstellt, demzufolge werden weltweit Finanzmittel für humanitäre Hilfe gekürzt. Was ist damit gemeint und welche Folgen hat das?
Dirk Bathe (Pressesprecher bei der christlichen Kinderhilfsorganisation World Vision): Es ist eine weltweite Kürzung von Finanzmitteln, nicht nur von europäischen Ländern. Die USA zum Beispiel, aber auch andere wohlhabende Länder kürzen ihre Finanzmittel für humanitäre Hilfe.
Das trifft natürlich vor allem Menschen in extremer Not. Angefangen bei den Betroffenen, von Naturkatastrophen über Opfer des Klimawandels bis hin zu den Menschen, die vor Krieg und Gewalt flüchten.
Letzteres sind häufig Menschen, die innerhalb eines Landes auf der Flucht sind, die sogenannten Binnenvertriebenen, oder die in die Nachbarländer geflüchtet sind. Dort leben sie in Lagern und sind dringend auf Hilfe angewiesen, vor allem auf Nahrungsmittel.
Genau da müssen wir und viele andere Hilfsorganisationen die Essensrationen aufgrund der Kürzungen drastisch einschränken. Diese Menschen hungern jetzt. Ein Beispiel möchte ich gerne nennen: Familien zum Beispiel in den Camps der geflüchteten Rohingya in Bangladesch müssen im Monat mit 8 bis 10 US Dollar auskommen.
DOMRADIO.DE: Warum gibt es weltweit weniger Hilfen?
Bathe: Weil es weltweit eine ungeheure Dichte von Krisen gibt. Sie haben den Klimawandel erwähnt, der zu Dürren, aber auch Überflutungen führt und zum Beispiel Ernten vernichtet. Es gibt immer noch die Folgen der COVID-Pandemie, aber eben auch mehr Kriege und Konflikte wie aktuell im Sudan.
Davon sind auch die Nachbarländer betroffen. Das führt dazu, dass von den wohlhabenderen Staaten mehr Geld in Rüstung investiert wird. Das ist dann wiederum das Geld, das anderswo eingespart werden muss.
Ganz ehrlich, das geht politisch gesehen natürlich am einfachsten in der internationalen Not und Entwicklungshilfe. Auch die deutsche Regierung plant drastische Einsparungen in diesem Bereich von über einer Milliarde Euro.
DOMRADIO.DE: Ihr Bericht zeigt auch einen Anstieg von sexueller Gewalt, von Kinderarbeit und Kinderhandel auf. Steht das im Zusammenhang?
Bathe: Absolut. Wir haben für unseren Bericht Hunderte geflüchtete Familien in insgesamt sechs Ländern befragt. Viele davon haben angegeben, dass der Hunger bei ihnen dazu führt, dass Kinder zum Beispiel sehr früh verheiratet werden, die berühmten Frühverheiratungen oder Zwangsverheiratungen.
Andere müssen wiederum die Schule verlassen, um betteln oder arbeiten zu gehen, wenn sie überhaupt Zugang zu Schulen hatten. Das ist beileibe nicht überall gegeben. Als Kinderhilfsorganisation schlagen bei uns bei World Vision die Alarmglocken.
Wir haben außerdem zum Beispiel Familien in Afghanistan befragt. Dort ist die Lage so schlimm, dass Eltern ihre Kinder verkaufen, um die verbliebenen Kinder überhaupt noch ernähren zu können. Das muss man sich mal vorstellen.
Wenn wir von Kürzungen bei Essensrationen sprechen, dann denken wir zunächst nur an Hunger. Aber dieser Hunger führt eben auch zu psychischen Belastungen, zu Hoffnungslosigkeit und somit auch wiederum zum Druck, flüchten zu müssen.
DOMRADIO.DE: Gibt es politische Forderungen, die World Vision formuliert?
Bathe: Ja, die gibt es. Wir von World Vision sind Teil einer Initiative von vielen Hilfsorganisationen. Wir haben uns unter dem Slogan "Luft nach oben" zusammengetan und fordern gemeinsam, dass die Bundesregierung die geplanten Kürzungen im Haushalt nicht umsetzt.
Wir als deutsche Hilfsorganisationen können uns an die deutsche Bundesregierung wenden. Es gibt gute Argumente aus deutscher Sicht dafür. Wir als Deutschland sind eine Exportnation und wir können uns nicht, wie ich finde, in ein Schneckenhaus zurückziehen und die Hungernden sich selbst überlassen.
Das führt nur zu weiteren Konflikten und das wiederum zu wegbrechenden Märkten. Aus der Sicht einer Exportnation und aus Sicht einer christlichen Organisation wie World Vision. Ich frage mal ganz ehrlich: "Wollen wir Christen sein oder Erbsenzähler?"
DOMRADIO.DE: Ausgerechnet zum Weltflüchtlingstag wird sich Kanzler Olaf Scholz mit den Ministerpräsidenten treffen und mit ihnen über die Pläne zur Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten verhandeln. Wie bewerten Sie diese Pläne?
Bathe: Diese Pläne sehen vor, dass man zum Beispiel Menschen dazu bringt, dass sie außerhalb von Deutschland ihre Asylanträge stellen. Wenn sie keine Chance auf die Gewährung eines Asyl bekommen, werden sie nach Ruanda oder jüngst nach Usbekistan ausgeflogen.
Ich sehe das sehr kritisch, muss ich ganz ehrlich sagen. Denn wir müssen sehen, dass wir die Fluchtursachen bekämpfen und am Hunger in der Welt, an den Fluchtursachen, in den Camps, das, was zu dem Druck führt, die Länder verlassen zu müssen und in wohlhabendere Länder zu flüchten. Daran wird das nichts ändern. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Fluchtfolgen.
Das Interview führte Heike Sicconi.