"Ohne Lenin hätte es die Sowjetunion nicht gegeben"

Historiker Aust über Lenin und sein Erbe

Vor 150 Jahren, am 22. April 1870, erblickte Wladimir Iljitsch Uljanow das Licht der Welt. Unter dem Pseudonym Lenin ging er als Gründervater der Sowjetunion in die Geschichte ein.

Autor/in:
Joachim Heinz
Lenin-Monument in Minsk / © Tatyana Zenkovich (dpa)
Lenin-Monument in Minsk / © Tatyana Zenkovich ( dpa )

Der Bonner Osteuropa-Historiker und Buchautor Martin Aust blickt auf den Revolutionär und auf die Legenden, die sich um seine Person ranken.

KNA: Lenin wollte nichts weniger als die Weltrevolution - woher nahm er das Selbstvertrauen?

Professor Martin Aust (Osteuropa-Historiker in Bonn): Das speiste sich zunächst einmal aus der marxistischen Überzeugung, wonach die Geschichte aus einer Abfolge von Klassenkämpfen und gesellschaftlichen Formationen besteht. Eines Tages, glaubten Lenin und seine Gefolgsleute, würde der Kapitalismus durch den Sozialismus abgelöst werden.

KNA: Soweit die Theorie, aber war Lenin sich denn seiner Sache dermaßen sicher, als er im Frühjahr 1917 in Russland ankam?

Aust: Keineswegs. Die Bolschewiki waren sich uneinig, wie sie den weiteren Verlauf der Revolution nach der Abdankung des Zaren einschätzen und sich zur Revolution verhalten sollten.

KNA: Was machte das mit Lenin?

Aust: Lenin drängte seit seiner Rückkehr nach Russland auf eine Fortsetzung der Revolution. Der provisorischen Regierung in Russland sagte er den Kampf an. Als dann 1918 und 1919 etwa in Budapest oder in München kommunistische Räterepubliken entstanden, meinte er darin Vorzeichen der kommenden Weltrevolution zu erkennen. Obwohl damals selbst ein Stalin meinte: Lass uns mit Russland anfangen, um die Welt können wir uns später kümmern.

KNA: Lenin hielt sich zeitweilig in München auf; nach Russland gelangte er 1917 per Eisenbahn, wobei der Zug ihn und seine Mitstreiter von deren Schweizer Exil aus einmal quer durch Deutschland transportierte, bevor er über Skandinavien die Endstation Petrograd erreichte. Welche Rolle spielten diese teils legendären Episoden im Leben Lenins?

Aust: Ich glaube, dass Deutschland für Lenin selbst keine große Rolle gespielt hat. Zu den Exil- und Untergrunderfahrungen vieler Bolschewiki gehörte ein Aufenthalt in Metropolen und Städten außerhalb Russlands. München war nur ein Beispiel unter vielen. Schließlich lebte Lenin zeitweilig auch in Zürich und London.

KNA: Und die Zugfahrt?

Aust: Galt lange als Beleg dafür, dass das Deutsche Kaiserreich kurz vor seinem Untergang noch einmal am ganz großen Rad der Geschichte gedreht habe. Ja, Lenin konnte auf diese Weise in seine Heimat zurückkehren. Aber dass er sich dort durchsetzen würde, war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls ausgemacht.

KNA: Das heißt?

Aust: Bei Lichte besehen gehörte die Passage mit der Bahn zu jenen eher randständigen Aktionen, mit denen die kriegführenden Nationen versuchten, ihre Gegner zu destabilisieren. Das Kaiserreich förderte deswegen beispielsweise auch die Nationalbewegungen in Irland und Indien, um die Ordnung im britischen Empire zu untergraben. Österreich-Ungarn wiederum stellte polnische und ukrainische Legionen auf, um Zwietracht im russischen Zarenreich zu säen. Viel gebracht hat das meiste davon nicht. Es sind allesamt eher Geschichten großer Fantasie mit wenig direkter Wirkung.

KNA: Die Gefahr des Scheiterns begleitete auch Lenins weitere Karriere. Bereits 1918 wurde er bei einem Attentat angeschossen. Inwieweit hat das seine Handlungsfähigkeit beeinflusst?

Aust: Lenin litt davon unabhängig unter gesundheitlichen Problemen, was ihn in seinem Wirken aber nicht allzu sehr beeinträchtigte. Erst 1922 reißt ihn ein erster Schlaganfall aus dem Geschehen. Er ist in der Folge halbseitig gelähmt und kann sich später nur noch schriftlich äußern.

KNA: Wie blickten Lenin und die Bolschewiki auf die Kirche?

Aust: Die Bolschewiki sahen in der russisch-orthodoxen Kirche eine Stütze des Zarenregimes und deswegen einen zentralen Gegner. In seinem unlängst erschienenen Buch "Das Haus der Regierung" über die frühe Geschichte der Sowjetunion beschreibt Yuri Slezkine, mit welchem Eifer die Bolschewiki die kommunistische Ideologie anstelle der Religion setzen wollten. Das alles mündete in Repressionen. Priester wurden erschossen, Heiligengräber geschändet und geöffnet; letzteres, um dem Volk die Ohnmacht von Kirche und Glaube zu demonstrieren.

KNA: Lenin starb 1924 - traf er so etwas wie eine Nachfolgeregelung?

Aust: Für sich selbst hatte Lenin mit großem Selbstverständnis eine Führungsrolle in Anspruch genommen. Aus seinen letzten Texten lässt sich jedoch entnehmen, dass er nach seinem Abgang eine kollektive Führung bevorzugt hätte.

KNA: Stattdessen kam Stalin an die Macht.

Aust: Sowohl Stalin als auch Leo Trotzki hielt Lenin für ungeeignet, die politische Führung zu übernehmen. Stalin bezeichnet er als groben Machtmenschen, der darüber hinaus die Bürokratisierung der KPdSU, der neu gegründeten Einheitspartei der Sowjetunion, vorantreibe. Das war Lenin suspekt.

KNA: Stalins Widersacher Trotzki...

Aust: ... war Lenin zu selbstbewusst.

KNA: Worin besteht das Erbe Lenins?

Aust: Tatsächlich in der Sowjetunion. Sie hätte es ohne Lenins entschlossenes Auftreten nicht gegeben. 1917 waren die Bolschewiki noch völlig uneins über den künftigen Kurs. Einige wollten beispielsweise in der damals eingesetzten verfassungsgebenden Versammlung mitarbeiten, anstatt sie aufzulösen. Es war Lenin, der gesagt hat: Wir müssen die Entwicklung an uns reißen.

KNA: Mit dem Namen seines Nachfolgers Stalins sind Menschheitsverbrechen unglaublichen Ausmaßes verbunden. Welches Verhältnis hatte Lenin zu Gewalt?

Aust: Auf Massenerschießungen und Straflager hatte Stalin kein Patent. Die gab es auch schon unter Lenin.

KNA: Welches Verhältnis haben Russen heute zum Gründervater der Sowjetunion?

Aust: Wenn überhaupt, dann ein eher nostalgisches, vor allem die Generation der zwischen 1950 und 1970 Geborenen. Die Kommunistische Partei gibt es im Russland von Putin ja immer noch. Aber sie spielt keine eigenständige Rolle mehr, sondern stützt das System und dient bestenfalls als Feigenblatt einer inszenierten Opposition.

 

Martin Aust / © Harald Oppitz (KNA)
Martin Aust / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA