DOMRADIO.DE: Sie sind einer der Autoren der Untersuchung zu Missbrauch im Bistum Münster. Jetzt bei der aktuellen Studie der evangelischen Kirche haben Sie unter anderem beim Teilprojekt A: Perspektive "Evangelische Spezifika: Kirche und Gesellschaft“ mitgearbeitet. Erklärtes Ziel der Studie ist eine Gesamtanalyse evangelischer Strukturen und systemischer Bedingungen, die sexualisierte Gewalt begünstigen und ihre Aufarbeitung erschweren.
Wie gut oder nicht gut ist dies der Studie nach Ihrem Eindruck gelungen?
Prof. Dr. Thomas Großbölting (Professor für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg): Die Studie hat sehr eindeutig zeigen können, wie weit und umfassend sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche verbreitet ist, und das unabhängig von unterschiedlichen politischen Systemen und Frömmigkeitsformen:
Missbrauch gab es in der Bundesrepublik wie in der DDR, in traditionellen Gemeinden wie in reformorientierten. In qualitativen Studien haben wir auch herausarbeiten können, wie die evangelische Kirche mit sexualisierter Gewalt umgegangen ist: Betroffene wurden nicht gehört und ab dem Moment, wo sie das System störten, abgewiesen.
Die quantitative Analyse der Studie hat Schwächen: Auf Grund verzögerter Zulieferung von Daten aus den Personalakten aus den Landeskirchen gibt es nur ein unvollständiges Bild vom Ausmaß des Phänomens in der evangelischen Kirche.
DOMRADIO.DE: Bei der Katholischen Kirche hat die MHG-Studie von 2018 die besonderen Machtstrukturen wie das Männerbündische als Risikofaktor gesehen, welche systemischen Bedingungen sehen Sie bei der Evangelischen Kirche vor allem?
Großbölting: Beiden Kirchen gemeinsam ist ein besonderer Machtfaktor: die Stellung des jeweiligen Geistlichen, der wegen seiner religiösen Hervorgehobenheit Macht besonders über diejenigen Kinder und Jugendlichen hat, denen der Glaube viel bedeutet.
Dabei scheint es keinen großen Unterschied zu machen, ob wir über geweihte Priester oder ordinierte Pfarrer sprechen. Daneben gibt es evangelische Spezifika: Was in der katholischen Kirche die Hierarchie- und Autoritätsverhältnisse sind, sind in der evangelischen Kirche Verantwortungsdiffusion und Machtvergessenheit.
Hinzu kommt das Selbstbild von der "besseren Kirche“, in der – da demokratisch und partizipativ – sexualisierte Gewalt undenkbar scheint. Und was nicht vorstellbar ist, wird dann auch nicht wahrgenommen.
DOMRADIO.DE: Welche Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung geben Sie nun der Evangelischen Kirche auf den Weg, was wäre besonders wichtig?
Großbölting: Wer die Studie aufblättert, findet ganz viel zu jedem dieser Themen. Die Erarbeitung von Ableitungen zu Prävention, Intervention und Aufarbeitung war eine der Aufgaben, denen wir uns ganz besonders gewidmet haben. Ganz unmittelbar aus der Studie folgt für die Aufarbeitung vor allem eines: Die Landeskirchen haben es versäumt, wie vereinbart Informationen aus den Personalakten zur Verfügung zu stellen. Das sollten sie jetzt nachholen, um damit ein einigermaßen belastbares Bild vom Ausmaß des Missbrauchs zu bekommen.
DOMRADIO.DE: Gelobt wurde bei der Studie die Einbindung der Betroffenen. Was kann die Katholische Kirche sowohl für die weitere, eigene Aufarbeitung als auch die Prävention aus dieser Studie der Evangelischen Kirche mitnehmen, gibt es etwas, was die Katholische Kirche besonders beachten sollte?
Großbölting: Ein neuer Akzent wurde mit der besonderen Konzentration auf die Analyse von Aufarbeitungsprozessen gesetzt: Wie in Kitas oder auch in anderen pädagogischen Zusammenhängen mit Missbrauch umgegangen wird, welche vertuschenden und ausschließenden Mechanismen ganz rasch greifen – diese Mechanismen in den Einrichtungen zu kennen hilft auch für die Prävention ungemein.
Die Fragen stellte Mathias Peter.