Auschwitz ist zum Synonym für die Schoah geworden, den NS-Massenmord an den Juden. Die Zahl der im Konzentrationslager Auschwitz selbst und vor allem im dazugehörigen Vernichtungslager Birkenau insgesamt Ermordeten wird auf etwa 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen geschätzt. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die überlebenden Häftlinge. Bundespräsident Roman Herzog erklärte vor 25 Jahren, am 3. Januar 1996, den 27. Januar zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus.
KNA: Herr Professor Brechtken, warum wurde erst vor 25 Jahren ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ins Leben gerufen?
Magnus Brechtken (stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München): Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man gedenken soll, war ein laufender Prozess. Die Gesellschaft tat sich lange schwer damit. Das späte Datum ist eine Reaktion auf diese mühseligen Verhandlungen. Die Initiative war Anfang der 1990er Jahre vom damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, vorangetrieben worden. Dass sie dann rasch umgesetzt wurde, zeigt den Wandel. Dieselbe Initiative zwanzig Jahre früher hätte kaum so rasch Erfolg gehabt. Auch jetzt kam wenig von unten aus der Gesamtgesellschaft.
KNA: Wurde das seinerzeit als Problem gesehen?
Brechtken: Die Frage ist, wie eine Alternative aussehen konnte. In einer demokratischen Gesellschaft spielen Institutionen und Repräsentanten zentrale Rollen. Personen, etwa in der Politik, müssen vorangehen. Der Erfolg zeigte, dass die richtige Zeit gekommen war.
KNA: Wie groß war der Gegenwind, als Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag erklärte?
Brechtken: Politisch eigentlich kaum nennenswert. Parlamentarische Polemik von rechten Parteien, wie er heute von der AfD denkbar wäre, gab es nicht. Es stand jedoch die Frage im Raum, was für ein Gedenktag es sein sollte, ob er arbeitsfrei sein würde. Manche hätten sich einen Tag gewünscht, der weiter in die Gesellschaft hineingereicht hätte.
KNA: Was kann ein solcher Gedenktag leisten?
Brechtken: Die Menschen sollen sich in ihrem Alltagsleben ihrer historischen Dimension erinnern. Auschwitz steht repräsentativ für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Der Name symbolisiert ihren Anspruch auf rassistische Weltherrschaft. Daher ist es passend, dass am 27. Januar, am Jahrestag der Befreiung der überlebenden Häftlinge, an die Opfer des NS insgesamt erinnert wird. Wenn Menschen sich so vielleicht nur für fünf Minuten aus ihrem Alltag nehmen, um nachzudenken, haben wir schon viel erreicht.
KNA: Inwiefern?
Brechtken: Wir können uns vor Augen führen, dass es eine Zeit gab, in der es für viele Menschen alltäglich war, sein Gegenüber nach rassistischen Kriterien zu beurteilen. Und dann Gewalt anzuwenden, um die Welt rassistisch zu ordnen.
KNA: Heute greift der Rassismus um sich, antisemitische Straftaten haben ein Rekordniveau erreicht...
Brechtken: Leider nehmen bei vielen Menschen die Skrupel ab, sich offen rassistisch zu äußern. Viele Grenzen werden bewusst überschritten, Tabus gebrochen. Wer das tut, gibt nicht nur sein zivilisiertes Verhalten auf, das die Grundlage jeder Gesellschaft ist. Er übersieht auch, dass Rassismus am Ende jeden treffen kann.
KNA: Zugespitzt gefragt: Erfüllt der Gedenktag überhaupt seine Funktion?
Brechtken: Es wäre sicher zu viel verlangt, dass ein einzelner Gedenktag allumfassende Wirkung hat. Er kann nur ein Baustein in der Auseinandersetzung mit Geschichte sein. Der Anspruch bleibt, dass sich etwas wie Auschwitz nicht wiederholt. Und das jeder versteht, warum wir das ablehnen.
Es ist wichtig, diese Art von Erinnerungspunkten zu setzen. Im besten Fall regt es an, sich in der Schule, im Freundeskreis oder am Stammtisch über Geschichte zu unterhalten. Das ist die Funktion des Gedenkens. Wir haben einen rechten und einen linken Rand der Gesellschaft, die extreme Positionen vertreten. Das sind vielleicht 15 bis 20 Prozent. Wobei die Zahl der radikalen Rechten größer ist als die der Linken. Beide behaupten eine dogmatische Wahrheit, beide Extreme wollen ein anderes politisches System. Aber die große Mehrheit ist doch weiterhin am rationalen Diskurs interessiert. Und den müssen wir führen.
KNA: Und wie kann man diesen Diskurs am Laufen halten?
Brechtken: Professionell leisten das Lehrer, Wissenschaftlerinnen, Mitarbeiterinnen von Gedenkstätten, Bürgerinitiativen. Aber aufgerufen ist im Grunde jeder Mensch, dem es um ein friedliches, rechtsstaatliches, freies Leben geht. Als Gedenktag ist der 27. Januar heute international etabliert. Das ist ein Erfolg. Aber die Wirkung liegt nicht im Symbol, sondern im Gespräch darüber, wofür es steht.
KNA: Wenn wir heute über die Einführung des 27. Januar als Gedenktag sprechen, sind wir zugleich bei dem Thema, wie die Erinnerung an die NS-Verbrechen künftig am besten gestaltet werden sollte. Zum Beispiel gibt es immer wieder Kritik an einer starren Ritualisierung des Gedenkens. Aber auch Positionen aus der rechten Ecke...
Brechtken: Ja, bekannt ist die Forderung des AfD-Politikers Björn Höcke nach einer "180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur". Wenn man sich das Bild vor Augen führt, ist das ein Plädoyer für die positive Rückbesinnung auf den Nationalsozialismus. Wir sollten das klar benennen und abwehren. Ritualisierungen sind eine Herausforderung. Wenn wir uns mehr an Ritualen als an Inhalten orientieren, verlieren wir das Wichtigste aus dem Blick, nämlich das Gespräch über die Errungenschaften, die wir mit der Überwindung des Nationalsozialismus erlebten. Wir betreiben Erinnerung ja nicht um ihrer selbst willen. Wir wollen verstehen.
KNA: Wir schauen dabei auch nach vorne.
Brechtken: Wir hoffen, etwas für die Gegenwart zu lernen: Wie wandelt sich eine Gesellschaft, warum verwandeln sich Menschen, so dass es mit der Zeit möglich wurde, dass Lager wie Auschwitz entstehen. Wenn wir von diesen Fragen ausgehen, können wir für unsere Gegenwart lernen, dass sich sowas nicht wiederholt.
Das Interview führte Letizia Witte.