Historiker legt Überblickswerk zu Missbrauch in Kirche vor

"Die schuldigen Hirten" im Ringen um Aufarbeitung 

Pünktlich zur Veröffentlichung des Münsteraner Missbrauchsberichts steuert Kommissionsleiter Thomas Großbölting eine Gesamtschau über die Thematik bei. Deren Ergebnis zeigt: Mit "Aufarbeitung" alleine ist nichts gewonnen.

Autor/in:
Johannes Senk
Holzkreuze / © Konstantin Yolshin (shutterstock)

Zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche wurde bereits viel gesagt und geschrieben, erklärt und um Entschuldigung gebeten. Dennoch scheint das Thema nicht enden zu wollen.

In unregelmäßigen Abständen melden sich weitere Betroffene, werden neue Fälle bekannt. Der Kirche werden eine schleppende Aufarbeitung, mangelnde Verantwortungsübernahme sowie missbrauchsfördernde Strukturen vorgeworfen.

Thomas Großbölting

"Canisius war und ist ein wichtiges, aber dennoch nur ein Glied in einer langen Kette von Missbrauchsaufdeckungen."

Seit 2010, als mit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg der Stein in Deutschland richtig ins Rollen kam, wiederholt sich dieser Zyklus. Der Hamburger Historiker Thomas Großbölting sieht die Vorkommnisse um das vom Jesuitenorden geleitete Gymnasium als wichtig an. Jedoch sträubt er sich, sie als "den deutschen Wendepunkt" in der Missbrauchsdiskussion zu bewerten. 

"Canisius war und ist ein wichtiges, aber dennoch nur ein Glied in einer langen Kette von Missbrauchsaufdeckungen, die sich zeitlich weit in die Geschichte und räumlich über den ganzen katholischen Orbit erstreckt", schreibt der Historiker in seinem neuen Buch "Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche".

2010, das "Jahr des Missbrauchs"

Dennoch, so Großbölting weiter, habe 2010 seinen Status als "Jahr des Missbrauchs" für die katholische Kirche in Deutschland zementiert, was für allem daran liege, dass sich nun die Betroffenen trauten, über das Erlebte zu sprechen und sich mit dem Eckigen Tisch auch eine Betroffeneninitiative formierte. Auch deswegen steht das Canisius-Kolleg am Beginn der Chronologie in Großböltings Werk.

Nach einer einleitenden Definition dessen, was sexueller Missbrauch ist, wie über ihn zu sprechen sei und wie er juristisch behandelt wird, beginnt Großbölting mit der genannten Zeitfolge, die auch die bereits vorangegangenen Skandale in den USA und Irland beleuchtet.

Symbolisches Erscheinungsdatum

Im Folgenden geht der Historiker über die reine "Geschichte des Missbrauchs" - wie der Titel sie ankündigt - hinaus und wirft die Frage auf: Wie viel Missbrauch gab es in der Kirche, und ist sie tatsächlich ein "Hotspot"? Der Forscher weist jedoch darauf hin, dass auch wenn diese Fragen sicherlich eine Relevanz haben, sie sich empirisch und wissenschaftlich (noch) nicht vollständig beantworten lassen. Und hält er die reinen Zahlen letztlich nicht für erheblich: "Der rein quantitative Gleichklang befreit nicht von der Aufgabe, in jedem Zusammenhang nach den spezifischen Ursachen von Fehlentwicklung und Verbrechen zu forschen."

Der Erscheinungsdatum des Buches am Montag ist übrigens bewusst gewählt. Am selben Tag wird die vom Bistum Münster in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie vorgestellt, mit der ein fünfköpfiges Team von Wissenschaftlern im Oktober 2019 begonnen hatte. Leiter der Forschungsgruppe ist Großbölting selbst.

Es geht um mehr als die Rechtslage

Die Wissenschaftler haben Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester in der westfälischen Diözese zwischen 1945 und 2018 aufgearbeitet. Dabei wählten sie, wie Großbölting betont, einen historischen Ansatz, womit sich das Münsteraner Gutachten deutlich von den juristischen in Köln oder München unterscheiden soll. Gutachten und Buch setzten zwar je eigene Schwerpunkte, griffen aber dennoch ineinander, heißt es.

Durchaus bemerkenswert ist es da, dass im Zentrum von Großböltings Abschlusskritik die "Aufarbeitung" steht. Diese sei im Zuge der Diskussion zu einem "wenig profilierten Containerbegriff" mutiert, "der als solcher allenfalls eine Richtung für den Umgang mit der Vergangenheit angibt, ohne aber schon ein klares Konzept zu formulieren". 

Die MHG-Studie

2014 hatte die Deutsche Bischofskonferenz das interdisziplinäre Forschungsverbundprojekt "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" in Auftrag gegeben. Das Projekt wurde durchgeführt von einem Forscherkonsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (deshalb MHG-Studie).

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )

So lehnt Großbölting die Aufarbeitung in Form eines "juristischen Tribunals" ab, wie sie etwa im Kölner Gutachten angelegt sei. Der rechtliche Kontext sei nur ein Aspekt, darüber hinaus gehe es auch um systemische Zusammenhänge in der Institution, um Verantwortlichkeiten, die Sexualmoral sowie das Selbst- und Fremdbild von Klerikern und Laien.

Welchen Ausweg gibt es?

Als wichtiges Element für eine zielgerichtete Aufarbeitung mahnt Großbölting den "Primat der Betroffenen" an. "Betroffene haben Ansprüche und Interessen, die mit denen der Täterinstitution Kirche inkompatibel sind und bleiben müssen." Statt auf deren Partizipation im Prozess müsse die Kirche daher auf die Selbstermächtigung der Betroffenen setzen und sich "viel stärker und in Demut" auf deren Sichtweise einlassen.

Großbölting sieht als möglichen, "radikalen" Ausweg aus der Krise, dass die Kirchenführung Macht und Kontrolle abgibt, auch wenn sie damit die Deutungshoheit verliert. "Dieses Risiko aber werden die Bischöfe eingehen müssen, wenn sie an einer glaubwürdigen, gesellschaftlich und kirchlich tragfähigen Aufarbeitung wirklich interessiert sind", urteilt der Historiker.

"Die schuldigen Hirten" ist durchaus auch als Angriff auf die kirchlichen Strukturen zu lesen, die der Autor als Verankerungen für den Missbrauch deutet. Von einer Verurteilung wolle er zwar ausdrücklich absehen, trotz des Wortes "schuldig" im Buchtitel.

Und doch ist das, was bei seinem Resümee am Ende heraussticht, wenig erbaulich für die, die von einem Bestand der katholischen Kirche als Volkskirche ausgehen - zeigt es doch, wie verfahren die Situation ist und wie groß bislang die Unfähigkeit der Kirche, sich daraus zu befreien.

Synodaler Weg plant "Schuldbekenntnis" zu Missbrauch

Vor dem Hintergrund der jüngsten Missbrauchsgutachten plant das katholische Reformvorhaben Synodaler Weg einen Arbeitskreis zum Thema "Schuldbekenntnis". Bei der Synodalversammlung in Frankfurt bezeichnete der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, das Gutachten aus München und Freising als "Beben". Er fügte hinzu: "Es wird nicht das letzte gewesen sein – andere Diözesen werden folgen. Und jedes Mal werden wir wieder mit tiefen Abgründen konfrontiert, die mich mit Scham erfüllen."

 © Julia Steinbrecht (KNA)
© Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
KNA