Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Süß, was hatte es mit dem "Kontrollratsgesetz Nr. 2, Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen" auf sich?
Dietmar Süß (Universität Augsburg): Es war eines der ganz frühen Gesetze nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ein wesentliches Ziel der alliierten Besatzungspolitik war die Entnazifizierung Deutschlands. Zur Entnazifizierung gehörten zentral die Zerschlagung und das Verbot der NSDAP und aller zu ihr gehörenden Organisationen.
KNA: Das Verbot hatte ganz konkrete Folgen.
Süß: Damit wurden auch das Vermögen der NSDAP und ihrer Gliederungen, Konten und Akten beschlagnahmt. Ein Beispiel: Das Vermögen der Deutschen Arbeitsfront sollte rückgeführt werden an die Gewerkschaften. Und mit Hilfe der vor der geplanten Zerstörung geretteten Mitgliedskartei konnte belegt werden, wer Mitglied der NSDAP war.
KNA: Wie lange zog sich der Prozess, von dem Sie sprechen, hin?
Süß: Im Grunde bis in die Gegenwart hinein. Man denke an den Konflikt im Zusammenhang mit den Rechten für Hitlers "Mein Kampf". Anfang 2016 kam die kritische Edition des Buches im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte heraus. Davor waren die Urheberrechte ausgelaufen, die beim Land Bayern lagen, weil dort der Franz-Eher-Verlag, der NSDAP-Zentralverlag, gesessen hatte.
KNA: Welche Verstöße gab es gegen das Gesetz von 1945?
Süß: Ein Moment der Kontinuität war die Gründung der Sozialistischen Reichspartei 1949, an der ehemalige NS-Funktionsträger beteiligt waren. Das war eine direkte Antwort auf das Verbot der NSDAP. Die neue Partei brachte es in Niedersachsen bei einer Landtagswahl auf ein zweistelliges Ergebnis. 1952 löste das Bundesverfassungsgericht die Partei als verfassungswidrig auf.
KNA: Kennen Sie weitere Beispiele?
Süß: In den 1950er Jahren versuchten ehemalige Nationalsozialisten, die FDP in Nordrhein-Westfalen zu unterwandern. Dann gab es noch die "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS" (HIAG), die ganz in der Tradition des Nationalsozialismus stand und offiziell erst 1992 aufgelöst wurde. Die HIAG diente auch als Netzwerk für Rechtsextreme und Neonazis.
KNA: Was bedeutet es genau, wenn eine Organisation in der Tradition nationalsozialistischen Gedankenguts steht?
Süß: Die Strukturmerkmale völkisch-nationalsozialistischen Denkens umfassen mehrere Punkte: eine übersteigerte Form des Nationalismus, Rassismus, ein autoritäres Staatsverständnis und die Ideologie von Volksgemeinschaft, also die Idee einer homogenen gesellschaftlichen Ordnung. Die NPD etwa lebt stark von einem extremen Nationalismus und einem autoritären Staatsverständnis, und neue rechtsextreme Kleinparteien wie "Der Dritte Weg" oder "Die Rechte" beziehen sich bis zu ihren Symbolen auf die Traditionen des Nationalsozialismus. Hinzu kommt die Bereitschaft, politische Ziele mit Gewalt durchzusetzen.
KNA: Wir haben ja nun schon im Rückblick über unterschiedliche Parteien gesprochen. In welchem Spektrum verorten Sie heute die AfD? Als sie nach und nach in die Parlamente einzog, warnte manch einer vor "Weimarer Verhältnissen".
Süß: Die Partei erlebt in der Tat seit ihrer Gründung im Jahr 2013 eine Form der stetigen Radikalisierung. Man muss nicht von "Weimarer Verhältnissen" sprechen, um beobachten zu können, wie gefährlich diese Entwicklung ist und wie weit die Bereitschaft geht, das parlamentarische System verächtlich zu machen. Wir machen es uns zu leicht damit, die Wähler und Unterstützer der AfD am Rand der Gesellschaft zu sehen. Denn der Resonanzboden reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.
KNA: Wie erklären Sie sich, dass die völkische Ideologie bis heute manche Menschen anzieht?
Süß: Zunächst einmal ist es so, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland viel liberaler und weltoffener ist, als dies Parteien wie die AfD glauben machen wollen. Manche sehen jedoch einen politischen und kulturellen Identitätsverlust, suchen einfache Erklärungen und vermeintliche Lösungen für komplexe Probleme. Hinzu kommen Erfahrungen von sozialer Ungleichheit und - wenn wir auf den Rassismus und Antisemitismus als Kern rechtsextremer Ideologie schauen - der Wunsch, sich selbst auf billige Weise über andere Menschen zu erheben. In der Vergangenheit gab es auch stets eine gewisse Tendenz zu extremen nationalistischen Haltungen und eine Bereitschaft zum Rassismus. Das ist lange Zeit sowohl in West als auch in Ost unterschätzt worden.
KNA: Wird Adolf Hitler von solchen Kräften heute noch als Vorbild gesehen?
Süß: Eine offene Verherrlichung des Nationalsozialismus und Hitlerverehrung spielen in entsprechenden Milieus eine untergeordnete Rolle. Es gibt sie aber.
KNA: Jenseits von Parteien gibt es gesellschaftliche Gruppierungen, die extrem denken, antisemitisch sind und teils den deutschen Staat ablehnen. Das trifft zum Beispiel auf die "Reichsbürger" zu, die der Verfassungsschutz als staatsfeindlich einstuft.
Süß: Die "Reichsbürger" sind antiliberal, und es ist bei ihnen ein stark wachsender Antisemitismus zu sehen. Allgemein haben wir uns insgesamt den Nationalsozialismus viel zu lange als abgeschlossene Ideologie vorgestellt. Dabei ist sie anschlussfähig, gerade, was das völkische Denken angeht. Zentral ist dabei die Unterscheidung in "wertes" und "unwertes" Leben. Wir sollten uns da nicht täuschen lassen: Solch rassistisches Denken gefährdet unsere Demokratie, auch und gerade wenn es mit Schlips und Kragen daherkommt.
Das Interview führte Leticia Witte.