domradio.de: Ein Konzert an einer Krippe auf einem Boot, das einmal ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer war, was ist das für ein Signal?
Benjamin Marx (Organisator Bootskrippe und Ehrenamtler in der Kölner Kirche St. Maria Lyskirchen): Die Krippe ist in diesem Jahr auf diesem Flüchtlingsboot aufgebaut. Das Boot ist Botschaftsträger der Krippe. Wir wollten einfach damit ein Zeichen setzen. Es genügt nämlich nicht, sich darüber aufzuregen, wenn mal ein Bild gezeigt wird, auf dem eine Kinderleiche an den Strand gespült wird. Nachher ist die Betroffenheit wieder weg. Wir wollten einfach sagen: "Menschen, wir müssen hinschauen."
Schauen wir zurück. Am 27. Januar 1945 ist das KZ Auschwitz befreit worden und alle haben gesagt: "Wir haben das nicht gewusst". Wir wissen heute alle, was auf dem Mittelmeer passiert. Wir wollten diesen Akzent setzen und wir setzen ihn mit den "Kindertotenliedern" von Gustav Mahler, die am Boot vorgetragen werden zur Erinnerung an das Leid der Kinder dieser Welt.
domradio.de: Kann man eine Brücke schlagen von dem Leid der Kinder heute, also diesen Flüchtlingskindern, die im Mittelmeer auf diesen Booten umkommen, zu heute? Wie machen Sie das?
Marx: Ich denke, man kann die Sachen nicht miteinander vergleichen. Aber in beiden Fällen wurde auch viel weggeschaut. Viele haben gesagt: "Wir wussten das nicht, wir haben das nicht gesehen". Sie haben einfach weggeschaut. So sind die Menschen in den KZs ums Leben gekommen. Und so sterben die Flüchtlinge im Mittelmeer vor den Augen der Öffentlichkeit.
Wir haben ja schon seit Jahren in unserer Krippe einen jüdischen Apotheker stehen, der ein eisernes Kreuz trägt und einen Davidsstern. Es ist eine reale Figur, die tatsächlich in diesem Viertel gelebt hat. Wenn in dieser Krippe die Figuren aus dem Viertel dargestellt werden, dann gehört dieser jüdische Apotheker mit dazu.
domradio.de: Das Thema ist präsent, Sie haben es eben auch schon gesagt: Es werden von Gustav Mahler die "Kindertotenlieder" an dem Boot gespielt. Das ist auch eine Thematik, die einen teilweise sprachlos zurücklässt. Schafft die Musik, was Worte vielleicht nicht können?
Marx: Ja. Die Künstler haben versucht durch die Musik und durch den Text das in eine Form umzusetzen. Es geht um das, was man verbal sonst nicht mitteilen kann. Es ist etwas, was auch den Menschen Trost gibt, aber gleichzeitig auch aufrütteln soll. Es wird über das Los der Kinder auf der Erde gesprochen. Es geht um Kinder, die ausgebeutet werden – in Steinbrüchen oder in Minen. Denn auch wir konsumieren Dinge, die durch Kinderarbeit erzeugt werden. Kinderarbeit ist oftmals schleichender Mord.
domradio.de: Was meinen Sie, wenn wir von dem Heute sprechen? Den ganzen Wirbel um die Höcke-Rede? Hat der etwas in Erinnerung an den Holocaust geändert?
Marx: Also ich denke, er hat damit schon provoziert. Er hat das sehr widerlich ausgedrückt. Er spricht von einem "Denkmal der Schande". Ist das Denkmal DIE Schande oder ist das Denkmal ein Denkmal FÜR die Schande? Das hat er ja sehr offen gelassen. Es wird damit gespielt, und dieses Verhöhnen dieser Sache macht die Sache einfach noch einmal ernster.
Wir haben ja in der Krippe auch ein kleines Roma-Mädchen stehen. Dieses Roma-Mädchen Grina steht auch für eine Gruppe, die verfolgt ist. Sie trägt heute auch einen braunen Winkel, so wie der Jude den Davidsstern trägt. Die Roma hatten eben ein braunes Dreieck, um gekennzeichnet zu sein. Ich habe in Berlin ein Projekt mit Roma zusammen gemacht. Uns sind die Worte entgegen gerufen worden: "Euch hatte man vergessen", und "In der früheren Zeit hätte man Euch hier an dieser Stelle nicht mehr".
domradio.de: Schlimme Worte, die da zu hören sind. Umso wichtiger, dass es diesen Gedenktag heute gibt. Der Eintritt ist frei, Sie nehmen aber Spenden entgegen für die Hilfsorganisation MOAS.
Marx: Wir möchten gerne sammeln für MOAS, damit MOAS das Schiff "Phoenix" wieder auf das Mittelmeer setzen kann. Wir möchten unterstützen, dass MOAS wieder Menschenleben retten kann, die vom Ertrinken bedroht sind. Das alles ist nicht die Lösung, aber jeder Mensch hat das Recht zu leben und "jedes gerettete Leben ist einmal die Welt retten", sagen die Chinesen.
Das Interview führte Silvia Ochlast.