Köhler sagte am Donnerstagabend in einer Fastenpredigt im Speyerer Dom, die am Freitag vom Bistum Speyer auf Youtube veröffentlicht wurde: "Präsident Putin möchte ich von diesem Gotteshaus zurufen: Gehen Sie nicht weiter auf dem eingeschlagenen Weg! Hören Sie die zum Himmel schreiende Stimme des vergossenen Blutes, auch aus Ihrem Volk!"
Köhler mahnte Putin, sich für eine "Friedenslösung nach geltendem Völkerrecht" zu öffnen, und forderte ihn auf: "Werden Sie Ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen gerecht!"
"Unüberhörbarer Weckruf an die EU-Mitgliedstaaten"
Der seit mehr als zwei Jahren andauernde russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeige, "dass Freiheit und Demokratie nicht nur durch Wort und Geist, sondern auch durch Wehrfähigkeit zu verteidigen sind", sagte Köhler weiter. Auf die russische Aggression habe die Europäische Union "bislang nicht mit Angst und Furcht geantwortet, sondern mit Solidarität und gemeinsamen Handeln". Der Ukraine "in ihrem Abwehrkampf beizustehen", bleibe auch weiter gefordert.
Es sei zu bedauern, "dass von hoher französischer und hoher deutscher Seite in dieser Frage zuletzt so unterschiedlich kommuniziert wurde", sagte Köhler, der von Juli 2004 bis zu seinem Rücktritt im Mai 2010 Bundespräsident war. Köhler bezog sich nun offenbar auf kürzliche Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nicht ausschloss, woraufhin Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ihm öffentlich widersprach.
Köhler sagte weiter, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sei "ein unüberhörbarer Weckruf an die EU-Mitgliedstaaten, jetzt endlich auch eine ernstzunehmende europäische Verteidigungsunion aufzubauen".
Köhler sprach in seiner Fastenpredigt über die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel (Buch Genesis, Kapitel 11, Verse 1-9). "Hochmut und Hybris bahnten sich in Babel ihren Weg gen Himmel", sagte er.
Auch in der Gegenwart ließen sich "zahlreiche Beispiele von Machtmenschen finden, die sich einen Namen machen wollen und in ihrem Trachten ganze Völker hinter sich scharen", so Köhler. "Wir bezeichnen sie gewöhnlich nicht als Turmbauer, obwohl manche von ihnen auch das gerne sind, sondern als Autokraten."
"Mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien"
Heute gebe es auf der Welt "mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien". 78 Prozent der Weltbevölkerung lebten in autokratisch regierten Ländern. Dort, wo die Staatsgewalt unkontrolliert in den Händen eines oder einiger weniger Menschen liege, werde Gefolgschaft erwartet und Widerstand selten geduldet.
In aller Regel zählten der Einzelne und seine Grund- und Bürgerrechte nur wenig in solchen Systemen, die jedoch letztlich nicht zukunftsfähig seien. "Uniformität geht schief, Vielfalt hat Zukunft", sagte Köhler. Das sei die zentrale Botschaft der Turmbauerzählung der Bibel.
Wo immer Menschen gemeinsam die Zukunft gestalteten, dürfe dies nicht dazu führen, "dass individuelle Prägungen und Unterschiede nivelliert werden, dass wir aufgeben müssen, was jeden und jede von uns einzigartig macht". Der 81-jährige Altbundespräsident betonte: "Wir tun gut daran, wenn wir die von Gott gewollte Vielfalt an Sprachen und ebenso die Vielfalt an Völkern, Kulturen, ja: auch Religionen und Konfessionen nicht als Fluch, sondern als Segen begreifen." Denn der Reichtum menschlichen Lebens liege in seiner Vielgestaltigkeit.