Kulturforscher sieht bei Putin religiösen Fundamentalismus

"Parallelen zu den Taliban"

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein religiöser Konflikt. Das sei in der orthodoxen Welt allerdings nichts Neues, sagt der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer. Russland sei eine Theokratie, im Kommunismus wie auch unter Putin.

Wladimir Putin und Kyrill I. / © Oleg Varov/Russian Orthodox Church Press Service (dpa)
Wladimir Putin und Kyrill I. / © Oleg Varov/Russian Orthodox Church Press Service ( dpa )

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt der Glaube in diesem Krieg? Man würde ja im ersten Moment denken, dass das nur eine politische Frage ist. 

Gerhard Schweizer / © Fotostudio Bechyna
Gerhard Schweizer / © Fotostudio Bechyna

Gerhard Schweizer (Kulturwissenschaftler und Autor des Buches "Kreuz und Schwert: Geschichte, Glaube und Politik der orthodoxen Kirchen"): Ja, so liest man es auch meistens in der westeuropäischen Presse. Dass es ein rein imperialistischer nationalistischer Krieg ist, dass Putin Russland in der alten Größe wiederherstellen will. Nur Russland in der alten Größe zur Zeit der Zaren war eine religiös-politische Herrschaft. Untrennbar waren hier Staat und Kirche verbunden. 

Nachdem das Sowjetreich zusammenbrach, wurde genau diese Staatsform wiederhergestellt. Aber auch die Sowjetunion hat keine Trennung von Politik und Ideologie oder Weltanschauung eingehalten. Der Kommunismus war eine Art Staatsreligion, eine atheistische Theokratie. Stalin, der ja selber ein Klosterschüler war, hat im Grunde die Herrschaftsformen der Kirche und des Zaren nur ins Atheistische transformiert. 

Gerhard Schweizer

"Der Kommunismus war eine Art Staatsreligion, eine atheistische Theokratie."

Putin, der ja gläubiger Kommunist sein musste als Geheimdienstchef, hat im Grunde den atheistisch kommunistischen Glauben nur abgewandelt in einen christlichen, intoleranten Glauben. Entscheidend war: keine Trennung zwischen Staat und Weltanschauung. Der Staat identifiziert sich nur mit einer einzigen Weltanschauung. 

Wladimir Putin / © Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP (dpa)
Wladimir Putin / © Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Schaut man sich Putins Rhetorik an, zum Beginn des Krieges zum Beispiel, findet man deutliche Parallelen zur Geschichte. Ein "Kampf gegen die Ungläubigen". Da liegt ja eigentlich die Parallele zu den Kreuzzügen relativ nahe. Ist das ein Zufall?

Schweizer: Das ist kein Zufall. Die orthodoxe Kirche steckt noch im Kreuzzugsgedanken. Sie betrachtet sich als die einzig wahre Kirche überhaupt. Das ist nicht nur in Russland so, das ist auch in Griechenland so, in Rumänien und allen Ländern, die ich besucht habe. Ich habe festgestellt, dass mir Priester, Mönche und Gläubige immer gesagt haben, die orthodoxe Kirche ist die einzig wahre Kirche, die sich seit 2000 Jahren in der Weltanschauung nicht geändert hat. Das klang wie eine Drohung. 

Gerhard Schweizer

"Die orthodoxe Kirche steckt noch im Kreuzzugsgedanken."

Die katholische Kirche habe sich zu sehr dem Zeitgeist angepasst. Und die evangelische Kirche ist überhaupt keine Kirche mehr, weil sie sich total dem Zeitgeist geopfert hat. Diese Haltung ist in allen orthodoxen Kirchen drin.

Nur ist es bei Russland so, das war der mächtigste Staat überhaupt und hat sich unter den orthodox kirchlichen Staaten als Beschützer aller anderen betrachtet, so wie es früher der Papst in Rom oder Karl der Große im Westen waren. Beschützer des katholischen Glaubens, so waren die Zaren, Beschützer des russisch-orthodoxen Glaubens. Das musste intolerant gegen alle Ungläubigen verteidigt werden. 

Ungläubig waren auch die anderen Konfessionen, selbst in unserem Kulturkreis. Die Evangelischen haben die Katholischen verfolgt oder umgekehrt die Katholischen die Evangelischen. Durch die Aufklärung hat sich das stark geändert. In Russland und in den ganzen osteuropäischen Ländern gab es aber gar keine Aufklärung. Die wurde entweder durch die russisch-orthodoxe Herrschaft verhindert oder durch die Herrschaft der Osmanensultane. Ein Teil der orthodoxen Kirche war ja unter osmanischer Herrschaft. 

DOMRADIO.DE: Also es gibt ein ganz klares Auseinanderdriften der westlichen Welt, katholisch, protestantisch und der östlichen Welt mit der orthodoxen Kirche - auch im Moment. Es kommt von Kyrill I. tatsächlich das Zitat: Die orthodoxe Kirche ist dem Islam teilweise näher als den Katholiken und Protestanten. Woran liegt das? 

Schweizer: Er meint damit, dass die orthodoxe Kirche sich dem Zeitgeist überhaupt nicht angepasst hat, also der Moderne. Keine Demokratie und auch innerhalb der Theologie nicht verschiedene Lehrmeinungen. Es ist selbst in der katholischen Kirche spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil normal, dass es verschiedene Lehrmeinungen gibt. Die einen sind mehr liberal, die anderen mehr konservativ. Es gibt den Widerstreit in der katholischen Kirche, in der evangelischen Kirche sowieso. 

Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche / © Oleg Varov (dpa)
Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche / © Oleg Varov ( dpa )

Im Islam ist der Zwiespalt auch aufgebrochen zwischen Moderne und Fundamentalismus. Und diesen Zwiespalt haben wir auch in der orthodoxen Kirche. Die orthodoxe Kirche, so wie wir sie wahrnehmen, bei Kyrill oder Alexej und den anderen Patriarchen ist im Grunde aus unserer Sicht eine fundamentalistische Strömung. Es hat sich seit 1000 Jahren nichts geändert, und es darf sich auch nichts ändern, denn das wäre im Grunde ein Irrtum. Der katholischen und evangelischen Kirche wird vorgeworfen, dass sie sich dauernd ändert und dem Zeitgeist anpasst.

Die Demokratie ist sowieso von Menschen gemacht. Da ändert sich dauernd etwas. Deshalb wurde auch Demokratie von dieser Kirche abgelehnt und von islamischen Fundamentalisten auch. Das ist die Parallele zwischen Kyrill I. und den Taliban oder den Machthabern des Iran. Es ist eine Theokratie. 

DOMRADIO.DE: Schauen wir auf Wladimir Putin: Früher KGB-Spion in Dresden, nach eigenen Angaben überzeugter Kommunist. Heute sieht man ihn überzeugt beim Weihnachtsgottesdienst in der Kathedrale in Moskau. Sie sagen aber, das ist nicht so ein Widerspruch, wie das auf den ersten Moment erscheint. 

Schweizer: Es ist ja verblüffend. Ich habe am Anfang auch geglaubt, als ich die Bilder gesehen habe, er ist ein guter Schauspieler. An Milosevic in Jugoslawien. Der Vater war Kleriker, aber Milosevic hatte einen Widerwillen gegen die Religion gehabt. Er hat sich aber der Machthaber der orthodoxen Kirche bedient, um seine nationalistischen Ziele durchzusetzen. Bei Putin geht das weiter. Er wurde Christ. Sein Beichtvater sagt, er sei ein wahrhaftiger Christ. Er war sogar zweimal auf dem für Orthodoxe heiligen Berg Athos in Griechenland. 

Wladimir Putin, Präsident von Russland, beim Besuch des Weihnachtsgottesdienstes in der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml. / © Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP (dpa)
Wladimir Putin, Präsident von Russland, beim Besuch des Weihnachtsgottesdienstes in der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml. / © Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Also nehmen Sie ihm das tatsächlich ab? 

Schweizer: Ich nehme es ihm ab. Nur versteht er unter Christentum etwas anders als wir. So wie er zuerst ein überzeugter Kommunist war, ist er jetzt orthodoxer Christ mit absoluter Unduldsamkeit fremder Weltanschauung. Was er an der Aufklärung schätzt, ist die moderne Wissenschaft, wenn es Naturwissenschaft ist. Er schätzt aber nicht die Geisteswissenschaft, die alles relativiert.

Gerhard Schweizer

"(Putin) ist gläubiger Christ. Er merkt, es stützt die Herrschaft, und er glaubt auch daran. Nur in einer fatalen Weise."

Das hat er auch mit islamischen Fundamentalisten gemein oder auch amerikanisch-christlichen Fundamentalisten. Die schätzen auch Weltraumfahrt oder Industrie, aber sie lehnen es ab, dass sich an der christlichen Weltanschauung seit seit dem 15. Jahrhundert etwas ändert. Und das ist bei Putin genau so. Insofern ist er gläubiger Christ. Er merkt, es stützt die Herrschaft, und er glaubt auch daran. Nur in einer fatalen Weise, wo wir sagen, das ist extrem fundamentalistisch. 

DOMRADIO.DE: Dabei scheint das ein gesamtgesellschaftlicher Trend zu sein. Lag in den 1990ern die Kirchenzugehörigkeit in Russland bei 30 Prozent, hat sich das inzwischen mehr als verdoppelt. Wie lässt sich das erklären? 

Schweizer: Die orthodoxe Kirche wurde ja in Russland unterdrückt. Nachdem die Freiheit wieder gewonnen war, haben sich manche wieder dazu bekannt. Wohl nicht gerade 70%, aber vielleicht 50%. Und dann haben auch manche gemerkt, dass es ein Vorteil ist, wenn man einer Glaubensgemeinschaft angehört, die die Mehrheit verkörpert.

Als ich 2017 in Moskau war, habe ich in den Kirchen unwahrscheinlich viele jüngere Leute gesehen, die vorher wahrscheinlich noch atheistisch erzogen wurden. Nachdem der Atheismus versagt hat, haben sie in dieser Kirche einen neuen Hoffnungsträger gefunden. 

Dieser Hoffnungsträger wird bleiben, solange die Kirche politisch erfolgreich ist. Das kann aber sofort wieder abstürzen, wenn die Kirche versagt, so wie es in der Herrschaft der Zarenzeit war. Die Kirche hatte an Ansehen ziemlich verloren, weil sie mit einer korrupten Herrschaft verbunden war. Und das könnte jetzt mit der orthodoxen Kirche in Russland, wenn Putin den Krieg verlieren sollte gegen die Ukraine, genau so passieren. Dann ist ein totaler Vertrauensverlust da und die orthodoxe Kirche gerät wieder in eine Krise.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Zur Info: Das Buch "Kreuz und Schwert: Geschichte, Glaube und Politik der orthodoxen Kirchen" von Gerhard Schweizer ist erschienen im Herder Verlag und kostet 24 Euro.

Orthodoxe Kirche

Als orthodoxe Kirche wird die aus dem byzantinischen (Oströmischen) Reich hervorgegangene Kirchenfamilie bezeichnet. Sie besteht je nach Standpunkt aus 14 beziehungsweise 15 selbstständigen ("autokephalen") Landeskirchen. "Orthodox" ist griechisch und bedeutet "rechtgläubig". Trotz großer nationaler Unterschiede und innerer Konflikte versteht sich die Orthodoxie in Bekenntnis und Liturgie als eine einzige Kirche. Ehrenoberhaupt ist der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I. (84).

Christlich-orthodoxes Holzkreuz und Kirche in der Nähe von Kharkiv in der Ukraine / © aquatarkus (shutterstock)
Christlich-orthodoxes Holzkreuz und Kirche in der Nähe von Kharkiv in der Ukraine / © aquatarkus ( shutterstock )
Quelle:
DR