Kirchenaustrittswelle: Was hält Menschen in der Kirche?

"Ich erlebe eine solidarische Gemeinschaft"

Nicht mehr mit mir. Das sagen viele, die derzeit der Kirche den Rücken kehren. Doch etwas verändern kann nur, wer weiterhin dabeibleibt, findet Ingrid Rasch. Allein schon deshalb motiviert sie in ihrem persönlichen Umfeld sehr bewusst zum Bleiben.

Ingrid Rasch ist in der Kölner Innenstadtpfarrei St. Severin beheimatet. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ingrid Rasch ist in der Kölner Innenstadtpfarrei St. Severin beheimatet. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Frau Rasch, als am 18. März das Gercke-Gutachten zum Umgang mit sexueller Gewalt im Erzbistum Köln vorgestellt wurde, war das "heute-journal" zu Gast in St. Severin. Hier glaubte das ZDF, kritische Stimmen von der Basis einfangen zu können. Denn kurz zuvor hatte die Gemeinde in einem Offenen Brief zur Art und Weise der Aufarbeitung des Missbrauchs durch die Bistumsleitung entschieden Stellung bezogen und Kardinal Woelki scharf kritisiert.

Schon vorher, aber erst recht seitdem werden Sie in Ihrer Gemeinde, aber auch privat immer wieder mit dem Thema Kirchenaustritt konfrontiert. Was bekommen Sie da zu hören?

Ingrid Rasch (Diplompsychologin und Leiterin des Caritas-Ausschusses St. Severin Köln): Zunächst einmal nehme ich mir die Zeit, aufmerksam zuzuhören. Wer über dieses Thema spricht und den Schritt zum Amtsgericht nicht kommentarlos vollzieht, dem liegt noch etwas an der Kirche, der gehört ihr nicht nur auf dem Papier an, sondern hat sich meist viele Gedanken im Vorfeld gemacht und sucht unter Umständen sogar nach einem Forum, diese noch einmal loswerden zu können.

Ohnehin differenzieren die Menschen meiner Erfahrung nach deutlich zwischen ihrer persönlichen Glaubensüberzeugung und der Institution Kirche. In solchen Gesprächen geht es dann darum, dass sich Frustrationen und Enttäuschungen oft über Jahre angestaut haben, der Ärger über die aktuellen Ereignisse das dann noch einmal toppt und schließlich der berühmte Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Diese Menschen erwarten Veränderungen – wie etwa die Abkehr von der Priesterzentrierung und der Überhöhung des Amtes; sie erwarten eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Leitung, Verantwortung und Amt.

DOMRADIO.DE: Und die letzte Konsequenz ist dann der Termin beim Amtsgericht?

Rasch: Selbst wenn diese Gleichberechtigung auch in unserer Gesellschaft noch nicht angemessen repräsentiert ist, so könnte nach der Meinung derer, die für sich einen Austritt erwägen, die Kirche hier viel deutlicher voranschreiten. Sie beklagen, dass sich die im Zweiten Vatikanum geöffneten Türen und Fenster gerade wieder schließen.

Sie sind schockiert über die Abwertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wie insgesamt über die Abwertung von Sexualität. All das passt nicht zu dem, was sie von Jesu Leben und seiner Botschaft im Evangelium verstanden haben, wie sie sagen. Und sie glauben nicht, dass diese von ihnen als essentiell erachteten Veränderungen auch nur ansatzweise gewollt, geschweige denn absehbar in Angriff genommen werden.

Da macht sich dann Resignation breit. Und man möchte nicht (mehr) mit so einer stagnierenden, ja als rückwärtsgewandt erlebten Organisation identifiziert werden. Zumal mittlerweile ja gerade für junge Leute schon ein gewisses Standing dazu gehört, sich als katholisch zu outen.

DOMRADIO.DE: Was sagen Sie denn denjenigen, die Ihnen gegenüber einen Kirchenaustritt erwägen – gerade wenn Sie heraushören, dass darüber das letzte Wort noch nicht gesprochen ist?

Rasch: Oft haben diese Menschen die Kirche vor allem als Institution, als ein strukturelles Gebilde im Blick mit all seinen kritikwürdigen Aspekten – und weniger die Tatsache, dass wir alle doch Kirche sind, wenn wir unser Gemeindeleben mitgestalten, gemeinsam Gottesdienste im Alltag, an Festtagen oder an wichtigen Wendepunkten unseres Lebens feiern.

Kirche ist für viele darüber hinaus auch ein Lebens- und Erfahrungsraum mit existenzieller Dimension, wenn ich da an junge Eltern denke, die für das Geschenk der Geburt ihres Kindes danken und sich bei seiner Taufe bewusst für eine Zugehörigkeit zu dieser kirchlichen Gemeinschaft entscheiden. Oder an die Stärkung, die Menschen bei einer Krankensalbung erfahren, und an den Trost von Angehörigen bei einem kirchlichen Begräbnis.

Diese Aspekte versuche ich im Gespräch aufzugreifen, weil sie in meinen Augen sehr bedeutsam sind.

Außerdem ist eines meiner Argumente: Wenn alle gehen, denen eine "ecclesia semper reformanda" am Herzen liegt, dann bestimmen am Ende nur noch die, für die das Wort "Zeitgeist" ausschließlich negativ besetzt ist und die eine Abkehr vom bisher Vertrauten und Gewohnten mit einem Verrat an der reinen Lehre gleichsetzen.

Nicht zuletzt verweise ich an dieser Stelle gerne auf die aktuellen Aussagen vieler Theologinnen und Theologen, die sich für eben jene Veränderungsschritte einsetzen – wie auch inzwischen eine beachtliche Zahl an Bischöfen.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn bei einem angekündigten Austritt das Argument "Kirchensteuer"?

Rasch: Nach meiner Wahrnehmung war das früher schlagkräftiger. Heute geht es mehr um die Kritik an der inhaltlichen Ausrichtung der Kirche. Trotzdem spielt natürlich auch das Thema "Geld" immer mit hinein, erst recht wenn es darum geht, wie und wofür es eingesetzt wird.

Dabei gebe ich allerdings auch eine oft unerwähnte Konsequenz zu bedenken: Die finanziellen Mittel werden sich mit weniger Mitgliedern drastisch reduzieren. Austrittswillige sehen oft die karitative Arbeit der Kirche als Aktivposten und wollen eingesparte Kirchensteuermittel dafür gezielt einsetzen.

Sie berücksichtigen dabei aber meist nicht, dass zum Beispiel ein funktionsfähiges Pfarrbüro als Anlaufstelle für viele Menschen und als organisatorische Unterstützung des Ehrenamtes Geld kostet; auch die Kirchenmusik und die Erhaltung des Kirchengebäudes fallen nicht vom Himmel, um nur einiges zu nennen.

DOMRADIO.DE: In dem schon zitierten Brief heißt es unter anderem, dass über der Kirche von Köln "eine geradezu bleierne Schwere, verstärkt durch die ohnehin schwierige Situation aufgrund der Corona-Pandemie", liege. Und dass den Verantwortlichen vor Ort täglich Kritik, Unverständnis, Wut und auch Trauer begegneten.

Außerdem wird die Frage gestellt, ob sich "ein seelsorgliches, karitatives, ehrenamtliches Engagement in dieser Kirche überhaupt noch lohnt". Wie beantworten Sie für sich selbst diese Frage?

Rasch: Für mich ist das keine Frage von Rentabilität. Ich mache keine Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Mein ehrenamtliches Engagement in verschiedenen Feldern – bei der Gestaltung von Wortgottesfeiern, in den vielfältigen Aufgaben der Gemeindecaritas oder in der gemeindlichen Öffentlichkeitsarbeit – macht mir sehr viel Freude, und es gibt mir das Gefühl, im guten Wortsinn "nützlich" oder wirksam zu sein.

Sicher habe ich das Glück, in einer lebendigen und aktiven Pfarrgemeinde beheimatet zu sein. Da erlebe ich eine solidarische Gemeinschaft, aus deren Vitalität heraus ich auch lebe; ich kann Gottesdienste mitfeiern, deren Gestaltung mich anspricht, deren Predigten mich oft bereichern, weil sie etwas mit mir und meinem Leben zu tun haben.

Und ich erlebe Seelsorgerinnen und Seelsorger, denen es ebenso wie den ehrenamtlich Aktiven am Herzen liegt, "nah bei den Menschen" zu sein, wie es im Leitwort unseres Pastoralkonzeptes heißt.

DOMRADIO.DE: Wer sich wie Sie seit Jahrzehnten ehrenamtlich in der Kirche engagiert, lässt sich selbst vermutlich nicht so schnell verprellen. Wie kommt das – trotz der massiven Kritik, die Sie üben?

Rasch: Mein Motivationsschub, den auch ich gelegentlich brauche, um nicht in Verzagtheit oder Resignation stecken zu bleiben, ist diese eben beschriebene Erfahrung in meiner Gemeinde mitten in der Stadt. Ich kann andere ermutigen und erfahre selbst Ermutigung.

In privaten, aber auch in kirchlichen Gesprächsrunden tut es mir gut, die eigenen Glaubensüberzeugungen ins Wort zu bringen, auf den Prüfstand zu stellen, mich immer wieder neu zu vergewissern, was mich trägt und stärkt. Ich versuche, meinen (Glaubens-)Horizont zu erweitern.

Aber nicht nur in Gesprächen, sondern auch durch Lektüre. Ich brauche diese Nahrung. Gerade lese ich zum Beispiel das neue Buch von Tomas Halík "Die Zeit der leeren Kirchen – von der Krise zur Vertiefung des Glaubens" und finde in seinen Predigten bewegende und bereichernde Impulse.

DOMRADIO.DE: Wie sehr schmerzt es Sie persönlich, dass gerade viele von Bord gehen, die sonst jahre- und jahrzehntelang zur verlässlichen Mannschaft dieses Schiffs „Kirche“ gehört haben und Sie von daher Mitstreiterinnen und Mitstreiter bei der gemeinsamen Sache verlieren?

Rasch: Natürlich ist das auch für mich persönlich ein Verlust, gerade wenn ich diese Menschen persönlich kenne, zumal ich fürchte, dass sie ihren Schritt nicht so ohne weiteres rückgängig machen werden. Und dieses tiefe Bedauern bringe ich auch zum Ausdruck, manchmal auch mit dem bewussten Appell, sich das noch einmal genau zu überlegen.

Ich erlebe allerdings auch Menschen, die vor vielen Jahren ausgetreten sind und jetzt mit der Erfahrung von Akzeptanz und Zugehörigkeit in unserer Gemeinde wieder ganz dazugehören wollen und erneut eintreten. Auch wenn es nicht viele sind, so ist das doch jedes Mal sehr berührend für mich.

Jeder Einzelne ist bei uns höchst willkommen. Zu tun gibt es ja genug. Denn manchmal gibt es dann auch die überraschend konkrete Nachfrage, ob man in der Caritasarbeit mithelfen könne oder ob im Bereich der Seniorenarbeit noch Bedarf an Unterstützung bestehe.

Das freut mich immer sehr zu erleben, dass sich Außenstehende von unserem Engagement anstecken lassen und sie da mitmachen wollen.

DOMRADIO.DE: Es gibt also trotz anhaltender Austrittswelle immer mal wieder einen Hoffnungsschimmer – wenn auch in bescheidenem Maße?

Rasch: Ich könnte wirklich ein paar sehr gute Beispiele dafür nennen, dass Menschen sich gerne kirchlich engagieren, auch wenn mein Fokus da vor allem auf der karitativen Arbeit liegt. Hier erlebe ich eine große Bereitschaft, sich einzubringen.

Die Menschen erfahren in einer aktiven Gemeinschaft von vielen ehrenamtlich Engagierten, was es heißt, schwächere oder benachteiligte Mitglieder unserer Gesellschaft in ihrer Alltagsbewältigung zu unterstützen. Hier und auch an anderer Stelle macht Kirche viele lebensfördernde Angebote, die oft nicht im Blick sind.

Gerade bei dieser ehrenamtlichen Mitarbeit spürt man, dass Gutes zu tun den Menschen gut tut. Und das immer mal wieder zu sehen, macht auch mir Mut. Denn eine lebendige Pfarrgemeinde, eine wohltuende Gemeinschaft, in der wir füreinander da sind, kann letztlich auch ein Grund dafür sein, trotz allem in der Kirche zu bleiben.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)


Quelle:
DR
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