Islamexperte kritisiert Islamverbände für Untätigkeit

"Täter gebrauchen die Potenziale des Glaubens"

Seit 20 Jahren unternehmen Islamverbände in Deutschland zu wenig gegen religiösen Extremismus, findet Murat Kayman. Es gelte anzuerkennen, dass dem Islam ein Gefahrenpotenzial innewohne. Gerade jetzt, nach dem Terror von Solingen.

Muslime in Deutschland / © Maja Hitij (dpa)
Muslime in Deutschland / © Maja Hitij ( dpa )

DOMRADIO.DE: Das Entsetzen über die Tat von Solingen ist natürlich groß. Es herrscht nahezu kein Zweifel mehr daran, dass das Motiv islamistisch ist. Wie erleben Sie denn die aktuelle Situation der Muslime? Wird unter den Gläubigen viel über dieses Attentat gesprochen? 

Murat Kayman (Publizist, Jurist und Beirat der Alhambra Gesellschaft): Ich habe das Gefühl, dass sich bei den Reaktionen der muslimischen Community, insbesondere in dem für die Öffentlichkeit sichtbaren Teil, kaum etwas verändert hat. Seit gut 20 Jahren, seit dem 11. September 2001, erleben wir immer wieder extremistische Taten, deren Täter sich einer islamistischen und religiösen Verbrämung ihrer Taten rühmen. Ich habe in den Reaktionen über die Jahre hinweg bei den muslimischen Organisationen kaum eine Veränderung beobachten können.

Murat Kayman

"Ich glaube, dass diese Reaktionen in der Öffentlichkeit mittlerweile als eher phrasenhaft wahrgenommen werden."

Und auch jetzt, nach dem aktuellen Anschlag in Solingen, können wir das gleiche Muster beobachten. Es gibt erstmal Betroffenheitsbekundungen, die ich für glaubwürdig halte. Ich bin mir sicher, dass in den muslimischen Organisationen großes Entsetzen nach solchen Taten herrscht und dass es ein großes Mitgefühl mit den Opfern, den Angehörigen und den Verletzten gibt.

Blumen nach der Messerattacke in Solingen / © Christoph Reichwein (dpa)
Blumen nach der Messerattacke in Solingen / © Christoph Reichwein ( dpa )

Ich glaube aber auch, dass diese Reaktionen in der Öffentlichkeit mittlerweile als eher phrasenhaft wahrgenommen werden, weil neben den Betroffenheitsbekundungen nichts passiert, woran die Öffentlichkeit erkennen könnte, dass die muslimischen Organisationen das Problem des islamistischen Extremismus ernst nehmen. Es ist nicht erkennbar, dass sie eine Verantwortung dafür verspüren, Maßnahmen einzuleiten, die die Anfälligkeit junger Muslime für radikalisierende Erzählungen erschweren oder verhindern. Da gibt es, glaube ich, nicht nur in der öffentlichen Kommunikation ein Defizit, sondern auch in der Selbstwahrnehmung, im Selbstverständnis und in der eigenen Handlungsbereitschaft. 

DOMRADIO.DE: Die AfD ist sehr schnell dabei, mit einfachen Lösungen zu werben. Dabei spricht sie immer sehr pauschal über Muslime. Haben Sie als Muslim den Eindruck, dass die Gefahr des Pauschalverdachts besteht? 

Kayman: Diese Gefahr besteht immer. Das zeigt sich, wie Muster aus den Ereignissen der vergangenen 20 Jahre, als Reaktion auf solche Taten. Es ist ja auch nachvollziehbar, dass es zu solchen Impulsen kommt. Für die Öffentlichkeit, gerade für die nichtmuslimische Öffentlichkeit, ist es schwer einzuschätzen, inwieweit diese Begründungen, die die Täter im Nachgang oder im Vorfeld ihrer Attentate zitieren, tatsächlich etwas mit dem Islam zu tun haben. Da gibt es eine Unwägbarkeit und ein Unsicherheitsgefühl und so werden Muslime häufig pauschal als Bedrohung wahrgenommen. Es wird angenommen, dass junge Muslime generell für extremistische Erzählungen anfällig sind und darin wird dann ein erhöhtes Gefahrenpotential wahrgenommen.

Murat Kayman

"Was zeigt der Öffentlichkeit, dass muslimische Organisationen Verbündete im Kampf gegen islamistischen Extremismus sind?"

Und die Öffentlichkeit fragt sich natürlich auch, was Muslime selbst, durch ihre öffentlichen Stimmen, durch ihre Vertreter und Organisationen, in den letzten 20 Jahren geleistet haben, um dieser Wahrnehmung etwas entgegenzusetzen und sie zu dekonstruieren. Was zeigt der Öffentlichkeit, dass muslimische Organisationen Verbündete im Kampf gegen islamistischen Extremismus sind? Ich glaube, dass da zu wenig passiert ist. Muslimische Organisationen neigen tendenziell dazu, diese religiös konnotierte extremistische Ideologie, die den Taten zugrunde liegt, von sich zu weisen und zu sagen: "Das hat mit meiner Glaubenswelt nichts zu tun, das hat mit meinem Islam nichts zu tun." Und auch diesen Impuls nehme ich ernst und halte dieses positive Selbstbild für glaubwürdig. Das Glaubensverständnis ist gewaltfrei und etwas, was sich für Frieden aktivieren lässt. 

DOMRADIO.DE: Aber das reicht nicht aus?

Kayman: Dass das nicht ausreicht, ist jetzt, nach 20 Jahren des islamistischen Extremismus, offensichtlich. Es zeigt sich, dass es immer wieder diese Anfälligkeit für radikale Vorstellungen gibt. Es braucht mehr als das passive Von-sich-weisen, es braucht aktive Impulse, die deutlich machen, dass muslimisches Leben als etwas Positives und Bereicherndes für die Allgemeinheit, verstanden werden kann. Es bräuchte eine muslimische Selbstverpflichtung, sich zum Wohle der Gesellschaft zu engagieren, die Probleme ernst zu nehmen und Lösungen anzubieten - wenigstens sollten sie Maßnahmen formulieren, an denen sich erkennen lässt, dass die Repräsentanten des muslimischen Lebens in Deutschland, dem Extremismus etwas entgegensetzen wollen.

Murat Kayman

"Man gibt jungen Menschen keine Hilfestellung dabei, solchen radikalen Einflüsterungen zu widerstehen."

Das passiert hier viel zu wenig. Viel mehr verstehen sich die Organisationen als muslimische Enklaven in Deutschland, als geschlossene Wagenburgen, die sich gegen eine nichtmuslimische Gesellschaft behaupten müssen, um ihre Identität zu bewahren. Man lebt hier, aber man lebt nicht für und mit dieser Gesellschaft. Man gibt jungen Menschen keine Hilfestellung dabei, solchen radikalen Einflüsterungen zu widerstehen. 

DOMRADIO.DE: Wie könnten konkrete Maßnahmen aussehen, auch von den muslimischen Verbänden, um diesem Islamismus entschieden entgegenzutreten? 

Kayman: Man muss ernst nehmen, dass islamistischer Extremismus den Glauben nicht bloß missbraucht. Ich höre und lese das immer wieder in muslimischen Stellungnahmen: "Das ist eine Perversion meines Glaubens. Das ist ein Missbrauch meines Glaubens und meines eigentlich guten Islams." Das ist eine positive Selbstwahrnehmung. 

Aber zur realistischen Selbstbetrachtung gehört es auch, etwas anzuerkennen: Dem Islam wohnt ein Gewaltpotenzial inne - wie bei jeder anderen Religion auch gibt es neben diesem Friedenspotenzial dieses Gewaltpotenzial zur Abwertung anderer Menschen. Die Täter, wie in Solingen, missbrauchen den Glauben eben nicht nur, sondern gebrauchen die Potenziale innerhalb ihres Glaubens, um Gewalt zu rechtfertigen und andere Menschen als Feinde und Gegner wahrzunehmen. 

Die Aufgabe und Verantwortung einer Religionsgemeinschaft, und so wollen muslimische Organisationen ja verstanden und behandelt werden, ist es auch zu definieren, was der eigenen Religion entspringt. Nicht nur das Positive, sondern auch das Potenzial zum Negativen. Dann muss man auch definieren, wie man dieses negative Potential einhegen kann. Eigentlich sollte das aus dem eigenen Antrieb heraus passieren: Wie kann ich verhindern, dass junge Menschen Gefallen daran finden, eine solche Dominanz, eine Überlegenheit aus der eigenen Religion abzuleiten, die sie letzten Endes in die Bereitschaft führt, Gewalt gegen andere anzuwenden, die sie als Gegner oder als minderwertig empfinden? 

Die bloße Existenz der eigenen Glaubenspraxis, die bloße Existenz der eigenen Gebäude, Räume, Moscheen und das, was darin passiert, reicht ganz offensichtlich nicht aus. Die jungen Menschen in die muslimischen Organisationen zu schicken reicht nicht aus, weil es immer mehr äußere Einflüsse gibt, die Gewalt befürworten und mit der Glaubensvorstellung junger Muslime verbinden. 

DOMRADIO.DE: Können denn da andere Religionen, wie zum Beispiel auch die katholische Kirche helfen, dass Kräfte des Ausgleichs bei Muslimen gestärkt werden?

Murat Kayman

"Es geht nicht darum, ein Lied der Aufklärung zu singen, die der Islam braucht oder Reformen einzufordern."

Kayman: Wenn bei einem solchen interreligiösen Dialog die religiösen Motivationen oder die Eigenarten der eigenen Religion im Vordergrund stehen, kann es sicherlich hilfreich sein, wenn es einen aufrichtigen Austausch über die negativen Potenziale des Glaubens gibt. Wenn gemeinsam diskutiert wird, wie in den unterschiedlichen Religionen die jeweils eigene religiös begründete Gewaltlegitimation überwunden wurde oder überwunden werden kann. 

Es geht nicht darum, ein Lied der Aufklärung zu singen, die der Islam braucht oder Reformen einzufordern. Es ändert sich ja nichts daran, dass junge Menschen nicht nur die positiven Potenziale ihrer Religion attraktiv finden, sondern auch die negativen Potenziale und daraus Feinderzählungen konstruieren. Man muss offensiv und schonungslos miteinander über diese negativen Potenziale sprechen, sie ernst nehmen und klar analysieren, inwiefern das etwas mit der eigenen Religion zu tun hat. 

Das Interview führte Mathias Peter.

Quelle:
DR