"Erdogan gelingt es offenbar, seine Wählerschaft emotional zu erreichen. Es geht um die Vergewisserung der Zugehörigkeit zu einer sicheren, stabilen Identität", schreibt Kourchide in seiner Kolumne für die Düsseldorfer "Rheinische Post" (Samstag). "Sie finden in ihm eine Projektionsfläche für Trost als Reaktion auf gefühlte Ablehnung und erlebte Diskriminierung."
Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster. Viele türkische Gesprächspartner haben ihm nach seinen Worten berichtet, immer wieder Diskriminierung zu erleben. "Man spricht in Deutschland weiterhin von 'Wir Deutschen' und 'Ihr Türken', dann sind wir halt Türken und wählen einen, der uns sagt: Vergesst nicht, ihr seid Türken, bevor ihr Deutsche seid", schilderte Khorchide die Eindrücke seiner Gesprächspartner.
Korchide: Mit Erdogan-Wählern auseinandersetzen
"Hinzu kommt, dass die größten Organisationen der Türken in Deutschland die Moscheegemeinden sind", so Kourchide. Die AKP-nahen Organisationen schafften es viel besser, ihre Wählergruppen zu mobilisieren: "Dennoch dürfen Erdogan-Wähler nicht abgestempelt werden - man muss sich mit ihren auch emotionalen Anliegen auseinandersetzen."
Erdogan hatte bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl alleine in Deutschland einen Stimmanteil von 64 Prozent eingefahren. Herausforderer Kiliçdaroglu kam deutschlandweit auf 22 Prozent.
Auch der Politikwissenschaftler Burak Copur erklärte, in Deutschland lebende Türken hätten vielfach für Erdogan gestimmt, weil sie ein Zeichen des Protests gegen die Bundesrepublik setzen wollten. "Die Abstimmung ist eine Protestwahl - die Erdogan-Unterstützer wollten Deutschland einen Denkzettel verpassen", sagte der Politologe dem "Spiegel" (Samstag).
Verdeckter Wahlkampf in Ditib-Gemeinden
Der türkische Präsident genieße bei seinen Anhängern "eine Art 'Führerkult'", so Copur. Dazu tragen aus seiner Sicht auch Versäumnisse in der deutschen Integrationspolitik bei. "Viele seiner Befürworter fühlen sich hierzulande diskriminiert und nicht anerkannt. Aus diesem Grund klammern sie sich umso mehr an ihren vermeintlich starken Präsidenten, der sie emotional in der 'Fremde' abholt und ihnen ein Wir-Gefühl vermittelt."
In den Moscheen der türkisch-islamischen Union Ditib habe in Deutschland zudem ein "verdeckter Wahlkampf" für Erdogans Partei AKP stattgefunden, so der Politikwissenschaftler. »Bei etlichen Veranstaltungen, die als Fastenbrechen angekündigt wurden, traten AKP-Abgeordnete auf und umgingen so geschickt das Auftrittsverbot.« Auch habe die Ditib Busse für die Menschen organisiert, um sie von der Moschee direkt ins Wahllokal zu bringen.