DOMRADIO.DE: In diesem Jahr sind über 1,8 Millionen Muslime zur Hadsch nach Mekka gepilgert. Wie lässt sich dieser enorme Ansturm erklären?
Prof. Dr. Johanna Pink (Islamwissenschaftlerin am orientalischen Seminar der Ludwig-Albert Universität in Freiburg): Weil es ungefähr eineinhalb Milliarden Musliminnen und Muslime auf der Welt gibt. Und theoretisch ist das für all diese Menschen Pflicht, wenn sie es sich leisten können und die Möglichkeit haben, einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Mekka zu verrichten. Und zwar an diesem genau festgelegten Zeitpunkt im islamischen Jahr, wo es alle tun. Die Nachfrage ist sehr groß. Die modernen Möglichkeiten des Reisens machen das auch relativ einfach.
DOMRADIO.DE: Ist es nicht fahrlässig, für ältere, vielleicht sogar gesundheitlich beeinträchtigte Personen, bei dieser Hitze überhaupt nach Mekka zu pilgern?
Pink: Viele Menschen sparen darauf ein Leben lang. Der Ansturm auf die Pilgerfahrt ist so groß, dass Saudi Arabien Kontingente verteilt. Das Land könnte gar nicht alle Menschen aufnehmen, die gerne pilgern würden, sondern versucht es zu regulieren durch die Vergabe von Pilgervisa.
In vielen, besonders bevölkerungsreichen muslimischen Ländern wie etwa Indonesien, wartet man jahrzehntelang auf so ein Visum. Das heißt, man ist eigentlich schon per Definition alt zu dem Zeitpunkt, wo man das Visum dann endlich erhält. Und dann möchte man die Pilgerfahrt auch vollführen. Das ist meistens dann auch keine Sache, die kurzfristig geplant ist, wo man sagen kann, ich gucke jetzt mal auf den Wetterbericht und entscheide dann, sondern man trägt das eben schon lange im Voraus.
Viele Menschen sagen vielleicht auch: Was Gott will, das geschieht. Wenn ich in Mekka sterbe, bin ich immerhin an einem heiligen Ort gestorben, als Märtyrer oder Märtyrerin sozusagen.
DOMRADIO.DE: Sind jetzt einfach zu viele Kontingente verteilt worden oder sind einfach auch Leute da hingefahren, obwohl sie gar keinen offiziellen Platz hatten?
Pink: Es gibt Länder, vor allem Nachbarländer, aus denen Menschen auch ohne Visum nach Saudi Arabien einreisen können. Oder sie haben sowieso eine Aufenthaltsgenehmigung, weil sie zum Beispiel saisonal in Saudi Arabien arbeiten oder dort Familie haben, also etwa aus Jordanien. Aus diesen Ländern sind wohl eine ganze Menge Leute noch zusätzlich zu der regulierten Zahl an Pilgern dazugekommen, was dann durchaus auch zu Problemen führen kann, zum Beispiel mit dem Massenansturm an bestimmten Stationen, die während der Pilgerfahrt absolviert werden müssen. Aber das ist jetzt natürlich nicht unbedingt eine Ursache dafür, dass es so viele Tote gibt. Die gibt es ja erst mal auch unabhängig von der Zahl.
DOMRADIO.DE: Es gibt auch Stimmen, die sagen, Saudi Arabien hätte Hitzewarnungen ausgeben müssen. Kann man dem Land da Vorwürfe machen?
Pink: Das ist natürlich eine ganz schwierige Frage. Die Golfregion, inklusive Saudi Arabien und Mekka, leidet massiv unter dem Klimawandel. Die Sommer sind dort in den letzten 20 Jahren extrem heiß geworden. Wir haben dort jetzt mittlerweile regelmäßig Temperaturen über 50 Grad. Eigentlich ist das ein Thema, dem sich Saudi Arabien stellen müsste, aber natürlich nicht stellt, weil das sehr weitreichende Folgen hätte für die Pilgerfahrt, die ja für die Muslime einfach als verpflichtend gilt. Auch sehr viel von der Legitimität des Königreichs Saudi Arabien hängt an der Hadsch.
DOMRADIO.DE: Nun findet die Pilgerfahrt zu einem festgelegten Zeitpunkt statt. Der ist aber nicht immer zur gleichen Jahreszeit, sondern wandert durch das Jahr. Könnte sich dadurch das Problem mit der Hitze auch für die kommende Zeit erledigt haben?
Pink: Der islamische Kalender ist ein Mondkalender, der ist etwas kürzer. Dadurch wandert der Zeitpunkt der Pilgerfahrt durch die Jahreszeiten. In den nächsten Jahren wird es sich in den Frühling, den Winter, den Herbst verschieben. Und ich vermute, dass man darauf hofft, dass es dann erst mal ein paar Jahre keine Probleme gibt.
Spätestens beim nächsten Zyklus, wenn in 13 Jahren das Ganze wieder im Hochsommer stattfindet, wird man sich diese Fragen stellen müssen. Kann man das noch verantworten? Wen kann man zulassen? Und dann hat man aber eben genau das Problem, dass es gerade oft die älteren Menschen sind, die die Pilgerfahrt besonders dringend machen möchten, weil sie auch in ihrem Leben vielleicht keine weiteren. Gelegenheit mehr haben werden.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat denn die Hadsch, die Pilgerfahrt für die Muslime? Hat das auch etwas Gemeinschaftsstiftendes? Für viele ist es sicher ein Erlebnis, das sie ein ganzes Leben lang nicht vergessen werden.
Pink: Viele Muslime empfinden gerade dieses Umrunden der Kaaba, aber generell die gleichzeitige Vollführung von Ritualen mit den vielen, vielen anderen Musliminnen und Muslimen aus aller Welt als etwas sehr Gemeinschaftsstiftendes. Man begibt sich, bevor man die Pilgerfahrt antritt, in einen Weihezustand. Männer rasieren sich die Haare ab, man legt ein spezielles Gewand an, weiße Gewänder, und in diesem Zustand ritueller Reinheit verbringt man die Pilgerfahrt und dann hat man eben diese riesige Gemeinschaft.
DOMRADIO.DE: Und es ist eines der weltweit größten religiösen Treffen. Das hat natürlich auch eine bestimmte Strahlkraft, wenn man das sieht, oder?
Pink: Auf jeden Fall. Man hört immer wieder von Muslimen, dass es für sie eine ganz prägende Erfahrung ist, auch sehr glücksstiftend, gemeinschaftsstiftend, identitätsstiftend. Das sind ganz viele Gründe, aus denen einerseits Saudi Arabien sich schwertun wird, da jetzt kurzfristig was zu ändern, aber auch aus denen auch ganz viele Leute letztlich das Risiko in Kauf nehmen, auch bei dieser großen Hitze die Pilgerfahrt zu vollführen.
Das Interview führte Johannes Schröer.