DOMRADIO.DE: Nehmen Sie eine Verrohung der Gesellschaft auch wahr?
Prof. Peter Schallenberg (Moraltheologe und Ethiker an der Theologischen Fakultät Paderborn): Paderborn ist noch ein recht zivilisiertes Pflaster. Aber insgesamt stelle ich auch fest, dass die Hemmschwelle zu ungezügeltem Auftreten - um es mal vorsichtig auszudrücken - und auch zu aggressivem Auftreten, niedriger wird. Ob das empirisch und auch soziologisch nachweisbar ist, müsste man dann nochmal durch Studien beweisen.
Aber ich glaube, dass es dafür eine Grundursache gibt. Jeder wirft Aggression, Polemik und Meinung erst einmal ungefiltert auf den Markt und an die Mitmenschen.
DOMRADIO.DE: Welche Gefahren bringt denn so eine Verrohung der Gesellschaft mit sich?
Schallenberg: Die Moraltheologen und Ethiker begegnen immer wieder dem Vorwurf, dass es früher nicht so egoistisch oder egozentrisch war. Heute sind das Verhalten und die Menschen egoistischer und egozentrischer. Da müsste man jetzt genau hingucken. Eigentlich ist der Moraltheologe da ein bisschen skeptisch und vorsichtig. Was ist damit gemeint? Grundsätzlich neigen wir als christliche Ethiker zu der These, dass seit Kain und Abel das Maß an möglicher menschlicher Aggression relativ gleich ungezügelt ist. Das soll diese paradigmatische Erzählung zeigen, dass der Mensch dem Menschen zum Wolf wird.
Das Eindämmen dieser ungezügelten Gewalt ist zunächst Aufgabe des Staates. So sagt der Heilige Augustinus, dass mit dem Mord des Menschen am Menschen, mit dem Brudermord, die Notwendigkeit von Ordnung vor Augen steht. Und diese Ordnung wird eingesetzt. Dadurch entsteht der Staat: Sanktionsordnung, Verbote, Gebote, Kanalisierung des Bösen.
Jetzt könnte man die Frage stellen: Ist das heute offensichtlicher als früher? Da gibt es zwei Dinge, die das verschärfen: Einmal der antiautoritäre Mainstream seit Ende der 1960er Jahre, der in der damaligen Zeit und als Reaktion auf starke und übersteigerte Autoritäten sicher notwendig war. Der aber zur Folge hat, dass jeder den Eindruck hat, ich bin erst mal im Recht und beuge mich keinen Autoritäten. Das hat einen leichten Zug ins Anarchische.
DOMRADIO.DE: Können Sie das beschreiben, was Sie da genau meinen?
Schallenberg: Das Bild des Menschen in der Gesellschaft ist ein sehr stark individualistisches. Ich bin ein Individuum, unverwechselbar, habe einen Anspruch, habe nicht nur allgemeine Grundrechte, sondern Individualrechte. Die soll ich auf meinem Lebensweg sehr offensiv einbringen oder möglicherweise auch durchsetzen. Und das alles meine ich positiv.
DOMRADIO.DE: Sehen Sie da keinen Zusammenhang, dass man seine individuellen Rechte durchsetzen möchte?
Schallenberg: Da würde ich schon einen Zusammenhang sehen. Das kann wie alles im menschlichen Leben kippen. Die Verschattung dieses starken, massiven Individualismus und der Nicht-Autoritätsgläubigkeit, ist: Ich setze mich durch. Der andere ist zunächst mal ein Konkurrent im Kampf um einen Platz an der Sonne. Das ist eine Verschattung dieses postmodernen Individualismus, ein Abnehmen von gottgegebener oder vorgegebener Sozialität.
DOMRADIO.DE: Religion hat vor einigen Jahrzehnten noch eine größere Rolle gespielt, auch im Alltag. Sehen Sie da auch einen Zusammenhang?
Schallenberg: Religion hat einen autoritätskonformen und -stützenden Charakter - gerade das katholische Christentum. Da braucht man nur auf so üble Beispiele wie die Franco-Diktatur zu schauen, sehr starke Stützung von Autorität bis hin zur Diktatur. Es liegt etwas im Zug des Katholischen, das zu befördern. Das Abnehmen von Religion, vom Christentum, hat zugleich auch einen Effekt des Abnehmens von Sozialität, Gefühl für Solidarität, für Nächstenliebe.
Nicht umsonst ist ja die Botschaft des Christentums nicht einfach Stützung von Autoritäten, sondern Beförderung von Nächstenliebe. Wie diese Nächstenliebe jetzt implementiert wird, wie sie dem Einzelnen nahegebracht wird, das ist jetzt die große Frage. Das geschieht in unserer Gesellschaft nicht mehr durch Autoritäten. Dadurch ist es schwieriger geworden, den Menschen ein Gefühl für Sozialität, Nächstenliebe und Höflichkeit zu vermitteln.
DOMRADIO.DE: Da sind jetzt mehrere gefragt, dem entgegenzuwirken. Wen sehen Sie am ehesten in der Pflicht?
Schallenberg: Wie üblich kommt jetzt das große Wort Bildung. Die Bildungseinrichtungen, die ja nicht einfach nur Erziehungseinrichtungen sein sollen, sondern wirklich den Menschen ausbilden sollen in seinen Fähigkeiten, Talenten, in seiner Sozialität, werden immer wichtiger. Dann wird man sagen müssen, dass man wahrscheinlich mehr Personal in Bildungseinrichtungen haben muss.
Wir haben ja ein sehr gutes Bildungssystem von der Kinderbetreuung an, die Grundschule und dann die weiterführenden Schulen. Da wird sehr früh schon Grund gelegt, was mitmenschlicher Umgang bedeutet. Auch der Kampf gegen Ghettoisierung, gegen abgeschottete Parallelgesellschaften auch in sozialen Brennpunkten, also Verwahrlosung von Milieus, Verwahrlosung von Menschen, die zu uns kommen, sich nicht einfügen und eine Parallelgesellschaft bilden. Aber das liegt auf beiden Seiten.