DOMRADIO.DE: Sie leben in Jerusalem. Pessach wird normalerweise im Kreis der Familie begangen. Wie ist das in diesem Jahr?
Msgr. Stephan Wahl (Autor und Priester in Jerusalem): Das Fest hat natürlich auch gestern Abend im Kreis der Familien stattgefunden. Ich selber war auf einer Sederfeier bei einer israelischen Familie eingeladen. Auf jeden Fall wird man auch in diesem Jahr Pessach feiern, aber mit einem ganz anderen Hintergrund.
Es gibt viele Familien, die zum Beispiel in Erinnerung an die Toten des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober oder auch an die Geiseln einen zusätzlichen Stuhl an ihren Tisch gestellt haben, in Erinnerung an die, die nicht mehr mitfeiern können.
Es gab gestern auch eine andere Besonderheit. Es wird traditionell immer aus der Haggada (Buch, das im Rahmen des religiösen jüdischen Lebens Erzählungen und Handlungsanweisungen für den Sederabend beinhaltet, Anm. d. Red.) gelesen. Da gab es eine Erweiterung aus Nahal Os, das ist eines der Kibuzze, die am 7. Oktober überfallen worden sind.
Und da hat man den Ablauf vom Text her geändert. Zum Beispiel hieß es: "Pessach ist ein Feiertag des Frühlings, der Schönheit und der Erneuerung. Uns fällt es aber schwer, die Knospen und Blumen überhaupt zu sehen." Da merkt man, dass die Ereignisse der letzten Monate mit hineinspielen.
DOMRADIO.DE: Nochmal zum religiösen Hintergrund. Warum wird das Pessachfest auch Fest der ungesäuerten Brote genannt?
Wahl: Weil man in den nächsten sieben Tagen im Pessach nur Matzen essen wird, also ungesäuertes Brot. Das ist eine Regel, die aus der Bibel kommt und dann auch im Talmud weiter fortgeschrieben wird. Das erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, an den Weg durch die Wüste. Dieses Zeichen wird weltweit gefeiert.
DOMRADIO.DE: Der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland, Shimon Stein, hat in einem Interview jüngst gesagt, das Pessachfest biete in diesem Jahr die Gelegenheit, an das Schicksal der Geiseln der Hamas zu erinnern. Wie kann das jetzt und auch noch in den kommenden Tagen passieren?
Wahl: Man merkt schon, dass nun besondere Sicherheitsvorkehrungen da sind, weil viele Leute, natürlich auch viele Israelis, viele Juden durch die Altstadt an die Westmauer am Tempelbezirk gehen wollen. Man weiß nicht, was da passiert. Überall merkt man, dass alles, was mit Pessach zu tun hat, mit der jetzigen Situation durchtränkt ist.
Gestern zum Beispiel wurde in der israelischen Zeitung "Haaretz" an die zehn biblischen Plagen erinnert, die vor dem Auszug Israels aus Ägypten über den Pharao hereingebrochen sind. Man sagt jetzt, dass die israelische Regierung praktisch die zehn Plagen ausgelöst habe, weil die Geiseln immer noch nicht frei sind. Oder eine Israelin sagte gestern zu mir, es sei schwierig, dieses Jahr Pessach zu feiern, wenn man mit Blick auf das, was jetzt in Gaza passiert, immer noch selber als Kollektiv der Pharao sei.
DOMRADIO.DE: Pessach sind eigentlich Tage der Freiheit. Wie würden Sie Pessach im Jahr 2024 im Zeichen des Nahostkonflikts bezeichnen?
Wahl: Es ist eine Sehnsucht nach Freiheit, das kann man ganz klar sagen. Natürlich herrscht der Gedanke vor, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, dass der Friede im Moment noch in weiter Ferne ist und dass bei Pessach die Frage nach der Erlösung und nach der Freiheit sehr konkret wird. Da lautet im Moment im Grunde das Motto eher: "Die Hoffnung stirbt zuletzt".
DOMRADIO.DE: Ist in diesen Tagen ein besonderer Zusammenhalt in Israel zu spüren?
Wahl: Ich glaube, das ist jetzt nicht anders als sonst. Man merkt aber, dass die Spaltung im Land immer größer wird. Gestern Abend gab es, obwohl es Sederabend war, eine große Demonstration vor dem Wohnhaus von Regierungschef Netanjahu. Im Moment kann man wohl noch sagen, dass das Land zwar gespalten ist, was die Regierung angeht, aber man hält trotzdem zusammen, weil in der Kriegs-Situation die unterschiedlichen politischen Meinungen nicht an erster Stelle stehen.
Das Interview führte Carsten Döpp.