Jerusalemer Priester schildert Lage nach Geiselvereinbarung

Hoffnung auf Rückkehr der Verschleppten

Die angekündigte Pause im Nahostkrieg soll am Donnerstag beginnen. Die Vereinten Nationen mahnen, die Chance für Geisel-Freilassung und humanitäre Hilfe zu nutzen. Stephan Wahl in Jerusalem ist vorsichtig optimistisch.

Leerer Schabbat-Tisch für die israelischen Geiseln 
 / © Andrea Krogmann (KNA)
Leerer Schabbat-Tisch für die israelischen Geiseln / © Andrea Krogmann ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wie groß ist die Erleichterung angesichts der Nachricht von der Freilassung der Geiseln? Was bekommen Sie in Ihrem Umfeld davon mit?

Msgr. Stephan Wahl (privat)
Msgr. Stephan Wahl / ( privat )

Msgr. Stephan Wahl (Autor und Priester in Jerusalem)Die Nachricht ist ja noch relativ neu, auch, dass morgen ab 10 Uhr die Feuerpause nun wirklich beginnt. Die Nachricht wurde von allen erwartet, es ist natürlich keine endgültige Beruhigung, dass der Krieg zu Ende geht, aber zumindest ein Aufatmen.

Stephan Wahl

"Es ist natürlich keine endgültige Beruhigung, dass der Krieg zu Ende geht, aber zumindest ein Aufatmen."

Aber es ist ja nur eine Pause in diesem schrecklichen Krieg. Die Familien, die jetzt ihre Kinder und Frauen zurückbekommen, sind natürlich sehr erleichtert. Und es betrifft ja auf der anderen Seite auch palästinensische Familien, die jetzt 150 inhaftierte Familienmitglieder zurückbekommen, von denen 123 Menschen unter 18 Jahren sind – und drei 14-Jährige. Darunter sind keine wegen Mord Inhaftierte.

Und Israel hat 150 weitere palästinensische Gefangene namentlich genannt, die dann auch gehen dürfen, wenn die Hamas im Gegenzug weitere Geiseln freilässt. Das ist eine Entwicklung, die ins Laufen gekommen ist, und wir hoffen, dass das nur der erste Schritt ist.

DOMRADIO.DE: Was bedeutet die Feuerpause für Sie persönlich?

Wahl: Zumindest bedeutet sie, dass ich jetzt nicht jeden Tag gucken muss, wo und wie ich mich bewege, sondern ich werde mal nach Tel Aviv fahren, ohne Raketenalarm zu fürchten. Ich kann meinen Aktionsradius wieder etwas ausweiten und die nächsten Tage nicht ständig auf die Warnapp gucken, ob Raketen unterwegs sind oder nicht. 

Das wird den meisten Leuten hier so gehen, besonders natürlich den Menschen in der Nähe vom Gazastreifen, die in der unmittelbaren Reichweite der Raketen sind und natürlich den Menschen vor allem in Gaza selbst, die jetzt für eine kurze Zeit zumindest keine Bombennächte mehr erwarten müssen.

Einschläge im Gaza-Streifen (dpa)
Einschläge im Gaza-Streifen / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die internationalen Reaktionen sind geradezu überschwänglich, von US-Präsident Biden über EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bis hin zu Außenministerin Annalena Baerbock. Der Geiselaustausch wird als erstes Zeichen für einen möglichen Frieden genannt, teilt die israelische Bevölkerung diesen Optimismus?

Wahl: Die Stimmung ist natürlich sehr schwierig, denn es kippt in dem Sinn, dass die meisten Israelis als erstes Kriegsziel die Befreiung der Geiseln erreichen wollen, neben der Zerschlagung der Hamas. Von daher ist die Stimmung sehr gespannt.

Stephan Wahl

"Jeder wünscht sich, dass der Krieg bald zu Ende geht."

Alle sind nach fünf Wochen natürlich schon kriegsmüde und jeder wünscht sich, dass das bald zu Ende geht. Aber ich bin sehr pessimistisch, dass das in sehr schneller Zeit zu Ende geht.

DOMRADIO.DE: Wie reagieren denn die israelischen Medien?

Wahl: Das ist schwer allgemein zu sagen. Die Zeitungen, die ich lese, zum Beispiel Haaretz, das ist eine eher liberale Zeitung, freut sich natürlich, ganz klar. Alle freuen sich darüber, dass jetzt einige der Geiseln freikommen. Aber es bleiben ja viele in Geiselhaft. Vor allem steht die Frage: Wer von den Geiseln wird denn jetzt freigelassen und welche nicht? Es gibt ja auf der anderen Seite Familien, die sagen: Warum unsere Familienmitglieder nicht? Wir müssen weiter zittern!

DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn die Entwicklung für das Ansehen Netanjahus? Wird den israelischen Ministerpräsidenten das stärken? Oder werden die Menschen nach dem Krieg wieder auf die Straße gehen und für seinen Rücktritt kämpfen?

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu / © Dan Balilty (dpa)
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu / © Dan Balilty ( dpa )

Wahl: Ich vermute ja. Das Ansehen von Netanjahu ist völlig dahin. Man weiß nicht, was nach dem Krieg sein wird, aber im Moment sind seine Karten sehr schlecht, auch wenn er sich immer wieder politisch aufgerappelt hat.

Die Menschen werden ihm nicht verzeihen, dass er diese Krise mit zu verantworten hat und notwendige Entscheidungen nicht getroffen hat, dafür aber katastrophal falsche. Sein bisheriger Ruf als der Beschützer Israels, als der "Mister Security", ist völlig im Keller.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Quelle:
DR