DOMRADIO.DE: Zum 1. Juli übernehmen Sie die Leitung des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland. Und das in einer Zeit, in der die politische Stimmung gegenüber Flüchtlingen und Migranten eher restriktiver wird. Welche Rolle spielt da Ihre Arbeit?
Stefan Keßler (Designierter Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland): Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst hält gemeinsam mit den Kirchen und mit vielen anderen Organisationen an den Werten fest, die zentral für unser Gemeinwesen sind: Solidarität, Mitmenschlichkeit und Respekt. Gerade weil wir gemeinsam mit Flüchtlingen für ihre Rechte eintreten, bleibt unsere Arbeit wichtig. Flüchtlinge und Migranten müssen die Möglichkeit haben, an der Weiterentwicklung unserer gemeinsamen Gesellschaft aktiv und gleichberechtigt mitzuwirken.
DOMRADIO.DE: Auch das Kirchenasyl macht im Moment Schlagzeilen. Vergangene Woche wurde eine russische Familie von der Polizei aus einer evangelischen Gemeinde aus Uelzen geholt. Lange war sowas unvorstellbar. Ist die Institution des Kirchenasyls in Gefahr?
Keßler: Das Kirchenasyl war noch nie unumstritten, sondern ist immer wieder unter Beschuss geraten. Umso wichtiger ist es, hieran festzuhalten. Denn das Kirchenasyl ist nicht nur für die begünstigten Flüchtlinge und für die Kirchen von enormer Bedeutung, sondern auch für den Staat: Ein Kirchenasyl gibt den Behörden die Möglichkeit, den jeweiligen Einzelfall noch einmal zu überprüfen und eine falsche und möglicherweise sogar gefährliche Entscheidung zu korrigieren.
DOMRADIO.DE: Am Dienstag wurde bekannt, dass von der EU finanzierte Sicherheitskräfte Flüchtlinge in Nordafrika systematisch in der Wüste ausgesetzt haben, dabei sei auch eine Frau ums Leben bekommen. Wie beurteilen Sie das aus christlicher Sicht?
Keßler: Die Europäische Union will ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sein, in dem der Schutz der Menschenrechte eine zentrale Rolle spielt. Dieses Selbstverständnis setzt sie mit ihrer konkreten Politik aufs Spiel. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst wird dennoch weiter für ein Europa eintreten, das auf dem Respekt, dem Schutz und der Verwirklichung der Rechte aller Menschen gegründet ist.
Dazu gehört die praktische Solidarität mit Menschen, die vor Verfolgung und Gewalt fliehen mussten und in Europa eine neue Heimat suchen. Hierfür brauchen wir übrigens das Europäische Parlament als Partner. Deshalb bitten wir alle Wahlberechtigten darum, am 9. Juni zur Wahl zu gehen und sich für Parteien und Kandidaten zu entscheiden, die für den Schutz der Menschenrechte stehen.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus spricht sich sehr deutlich für die Unterstützung von Geflüchteten weltweit aus. Wie wichtig ist diese Fürsprache des Kirchenoberhauptes, auch gegenüber der Politik?
Keßler: Einen gefährlichen Trend in der politischen Debatte haben Sie in Ihrer ersten Frage bereits angesprochen: Die Stimmen derjenigen Menschen, für die Anstand und Mitmenschlichkeit noch keine Fremdworte sind, werden von einer kleinen lautstarken Minderheit immer wieder übertönt. Gerade weil der Papst dagegen hält, indem er immer wieder öffentlich und mit klaren Worten Mitmenschlichkeit und Solidarität auch mit Flüchtlingen und Migranten einfordert, gibt er uns Mut und Inspiration.
DOMRADIO.DE: Welche Schwerpunkte möchten Sie in Ihrem neuen Amt auch persönlich setzen?
Keßler: Papst Franziskus hat kurz nach dem Beginn seines Pontifikats im April 2016 auf der griechischen Insel Lesbos gesagt: "Und doch darf man nie vergessen, dass die Migranten an erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten.". Das ist für mich das Leitmotiv unserer Arbeit: Der Einsatz dafür, dass Flüchtlinge und Migranten nicht als bloße Masse wahrgenommen werden, sondern als einzelne Menschen mit ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.