KNA: Überraschen Sie die Erkenntnisse aus den Paradise Papers?
Pater Jörg Alt (Jesuit): Ganz und gar nicht. Es setzt sich fort, was seit den Offshore Leaks 2013 verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt: Inhaber privater, betrieblicher und krimineller Einkünfte und Vermögen missbrauchen teils legale Optionen, um sich ihrer Pflicht für das Gemeinwohl zu entziehen. Damit brechen sie vielleicht nicht immer den Buchstaben, sicher aber den Geist vieler Gesetze und den ethischen Grundsatz "Eigentum verpflichtet". Vorsichtigen Schätzungen nach entgehen den Staaten der Welt jährlich über 400 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen, mit denen Schulen gebaut, Gesundheitsversorgung verbessert, der Klimawandel angegangen und in Infrastruktur und Jobs investiert werden könnte.
KNA: Die Veröffentlichungen deuten auf ein weltweit verzweigtes System an Steuerhinterziehung hin. Gibt es da aus Ihrer Sicht überhaupt Handlungsmöglichkeiten?
Alt: Im Prinzip müssten tatsächlich alle Staaten mitmachen. Aber man kann ja mal vor der eigenen Haustüre anfangen. Laut dem Financial Transparency Index sind auch EU-Staaten an der Verschleierung der Profiteure beteiligt: Luxemburg, Niederlande, Malta, Zypern, Irland - sogar Deutschland.
KNA: Der langjährige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sprach von einer Hydra, der man einen Kopf abschlage, ihr aber zwei nachwüchsen. Kapituliert die Politik vor den Superreichen?
Alt: Das aktuelle System ist durch politische Entscheidungen gewachsen, deshalb kann man es natürlich wieder zurückbauen - wenn man denn will. Das Tolle an den ganzen Datenlecks ist, dass die unfassbaren Dimensionen dieser Missstände an die Öffentlichkeit dringen und so der Druck erhöht wird, endlich dagegen vorzugehen. Die Panama Papers haben die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dazu bewogen, endlich etwas bei der Konzernbesteuerung und dem automatischen Kontendatenaustausch zu unternehmen. Ähnlich könnten jetzt die Paradise Papers dazu beitragen, noch bekannte Lücken weiter zu schließen.
KNA: Also könnte die deutsche Politik direkt etwas tun?
Alt: Ja. Die EU-Kommission will etwa im Rahmen der Geldwäschebekämpfung weitergehende Transparenzverpflichtungen zu wahren Eigentümern einführen als dies der Bundesregierung recht ist. Deutschland ist nicht überall Vorreiter, sondern bremst auch bei Verbesserungen, wo andere mitziehen würden. Jeder Staat will seine "kleinen Extras" im Steuerwettbewerb.
KNA: Was muss in Deutschland und Europa aus Ihrer Sicht passieren?
Alt: Neben einem Ende des Steuerwettbewerbs braucht es Transparenz der Besitzverhältnisse von Vermögensinhabern gegenüber Behörden. Zudem müssen Steuerverwaltung, Polizei und Staatsanwaltschaften besser ausgestattet werden. Die Informationen der Paradise Papers zum "System Engelhorn" etwa belegen, dass die Staatsanwaltschaft Augsburg auf der richtigen Spur und das vorschnelle Einstellen des Verfahrens nicht gerechtfertigt war. Auch wenn global keine Fortschritte zu erzielen sind, braucht es auf europäischer Ebene Entscheidungen. Warum kann man nicht wie in den USA die Steuerpflicht vom Wohnort lösen und an die Staatsangehörigkeit binden?
KNA: Steuerhinterziehung gilt in Deutschland trotz der vielen Leaks weiterhin als Kavaliersdelikt. Wie lässt sich diese Einstellung ändern?
Alt: Der Staat braucht die Kapazitäten, um von Banken, Steuerberatern und anderen entwickelte "Modelle" angemessen zu durchleuchten. Bis es so weit ist, sind diese Datenlecks und das Engagement der Zivilgesellschaft sowie der Medien umso wichtiger, die dort grenzübergreifend aktiv sein können, wo Staaten immer noch an rechtliche und ressourcenmäßige Grenzen stoßen. Entsprechend müssen Whistleblower, die derart gemeinwohlschädliches Verhalten enthüllen, eher geschützt als bestraft werden.
KNA: Aus Sicht der Katholischen Soziallehre gebe es keine Rechtfertigung für das Offshore-System, sagen Sie als Jesuitenpater. Wer innerhalb der Kirche teilt diese Sicht der Dinge?
Alt: Das Thema Steuergerechtigkeit ist in der Katholischen Soziallehre noch recht neu. Und es gibt ja noch Steuergerechtigkeitsfragen jenseits der Bekämpfung von Missbrauch. Gerade die Kardinäle Reinhard Marx und Rainer Maria Woelki haben bereits deutlich gemacht, dass die Steuergerechtigkeit in Deutschland kränkelt. Was in Deutschland, auch bei den Christen, noch fehlt, ist ein verbreitetes Wissen über die Probleme und ihre nationalen und internationalen strukturellen Ungerechtigkeiten. Politik handelt aber nur, wenn breite Bevölkerungsschichten ausdauernd und nachdrücklich Veränderungen einfordern. Ansonsten stehen Eliten und Experten gegen Eliten und Experten, und ich glaube nicht, dass die Politik in einem solchen Konflikt auf die Kirchen oder das Tax Justice Network hört.
Das Interview führte Christian Wölfel.