DOMRADIO.DE: Hoffnung gilt als christliche Tugend. Wenn wir aber weit zurückblicken in die Antike, dann sieht das anders aus. Für Platon und Aristoteles war Hoffnung keine Tugend.
Prof. Dr. Jonas Grethlein (Professor für klassische Philologie in Heidelberg und Autor von "Hoffnung. Eine Geschichte der Zuversicht von Homer bis zum Klimawandel"): In der Tat. Die Hoffnung wurde erst von den Kirchenvätern zur Tugend erklärt. Für die meisten antiken Philosophen war Hoffnung eine Emotion, die man kontrollieren musste. Da wurde Hoffnung eher mit Illusion gleichgesetzt. Ganz entscheidend dann für die positive Sicht der Hoffnung als eine Tugend, ist Paulus mit dem Korintherbrief. Dort spricht er von der Trias: "Glaube, Hoffnung, Liebe". Und in der Folge wird Hoffnung dann zusammen mit Glaube und Liebe zu einer der drei theologischen Tugenden erklärt.
DOMRADIO.DE: Für die Kirchenväter hat der Begriff Hoffnung als Tugend eine besondere theologische Bedeutung. Führt er damit auch zur Kernbotschaft des Christentums? Hoffnung auf Erlösung? Hoffnung auf Wiederauferstehung?
Grethlein: Ganz genau. Die Hoffnung hat einen Transzendenzbezug. Es ist vor allem die Hoffnung auf Auferstehung und auf das ewige Leben.
DOMRADIO.DE: Warum sind denn Religionen für die Hoffnung interessant?
Grethlein: Ich glaube, dass Hoffnung ein Weltverhältnis ist, dass zu allen Zeiten, in allen Epochen Menschen gehofft haben. Diese Hoffnung ist verankert in der Offenheit des Menschen zur Zukunft. Es ist also etwas ganz Wichtiges für das Leben und deswegen auch ein Aspekt, mit dem sich Religionen auseinandergesetzt haben.
Der christliche Hoffnungsbegriff wurde nicht unmaßgeblich durch die Hoffnung in der jüdischen Tradition geprägt. Auch im Alten Testament spielt Hoffnung eine große Rolle, ist dort meistens allerdings auf Gott gerichtet und noch nicht auf die Auferstehung.
DOMRADIO.DE: Also im Alten Testament haben wir nicht diese dezidierten Jenseitsvorstellungen, auf die Christen in späteren Zeiten hofften?
Grethlein: Ja, das fängt zwar in den späten Büchern des Alten Testamentes an, beispielsweise im Buch Daniel, es spielt dort aber noch keine so große Rolle. Das entwickelt sich dann wirklich erst im frühen Christentum durch Paulus, wird dann von Augustinus aufgegriffen und von den Kirchenvätern weiter ausgeprägt.
DOMRADIO.DE: Machen wir mal einen großen Schritt in die heutige Zeit, denn heute hoffen wir eher darauf, dass wir die Klimakrise in den Griff bekommen und dass der Krieg in der Ukraine und in Gaza endet. Verweltlicht das die Hoffnung, die sich ja früher viel stärker auf das Jenseits bezog, also auf die große Erlösung. Ist sie heute kleiner geworden? Säkularisiert?
Grethlein: Ich glaube, dass Hoffnung schon immer ganz verschiedene Formen annehmen konnte. Auch die frühen Christen haben nicht nur auf das ewige Leben gehofft, sondern auch darauf, dass die Zahnschmerzen aufhören, dass die Kinder anständig groß werden, dass man genug zu essen hat. Und auch in der Gegenwart gibt es ja Menschen, die auf Auferstehung und auf ewiges Leben hoffen.
Es ist allerdings eine Hoffnung, die nicht mehr von allen geteilt wird. Sie haben ganz recht, dass in der Polykrise der Gegenwart Hoffnungen oft darin bestehen, dass Schlimmes von uns abgewendet wird. Das ist keine so große Hoffnung mehr wie das Ewige Leben, sondern das ist dann eine Hoffnung, die sich darauf richtet, dass der Krieg in der Ukraine endet, dass es in Israel Frieden gibt und dass die Klimakrise vielleicht entschärft werden kann.
DOMRADIO.DE: Die "Letzte Generation" spricht sich ganz bewusst gegen die Hoffnung aus, weil sie befürchtet, wenn wir immer nur hoffen, dann kommen wir nicht zum Tun. Also Schluss mit der Hoffnung und rein in die Tat.
Grethlein: Das ist ganz interessant. Beispielsweise hat Greta Thunberg beim Weltwirtschaftsgipfel 2019 den dort versammelten Größen aus Wirtschaft und Politik entgegengeschleudert: “Ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr panisch werdet. Ich will, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag habe, und dass ihr dann anfangt zu handeln”.
Ganz ähnlich hat das eine andere Gruppe, Extintion Rebellion formuliert. Die sagen: “Hope dies. Action begins”. Das Handeln beginnt erst dann, wenn die Hoffnung stirbt. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es ganz viele Philosophinnen und Philosophen, Politologinnen und Politologen, die die Hoffnung als eine wichtige Ressource in der Gegenwart identifiziert haben. Sie behaupten, dass gerade die Hoffnung uns angesichts der Krisen der Gegenwart die Kraft geben kann, neue Wege zu finden.
DOMRADIO.DE: Hoffnung ist demnach keine zweifelsfreie Größe. Einerseits kann sie Kraft verleihen, so wie Sie das gerade beschrieben haben. Andererseits kann sie auch dazu verleiten, sich zurückzulehnen und auf bessere Zeiten zu warten?
Grethlein: Ganz genau. Ich glaube, diese pragmatische Dimension der Hoffnung, wie ich das nennen würde, hat zwei Gesichter, sie ist janusköpfig. Auf der einen Seite kann Hoffnung in der Tat motivierend sein. Sie kann im besten Fall Flügel verleihen. Auf der anderen Seite kann sie auch lähmend sein, wenn man sich beispielsweise leeren und eitlen Hoffnungen hingibt und versäumt, etwas zu tun.
Ich glaube, beides liegt in der Hoffnung. Und das, was ich interessant finde, ist, dass diese Doppelköpfigkeit der Hoffnung bereits in der Antike gesehen wurde. Das ist nicht eine Entwicklung der Gegenwart, sondern das haben bereits antike Autoren beobachtet.
DOMRADIO.DE: Inwiefern?
Grethlein: In der Antike wurde Hoffnung oft negativ gesehen. Daher betonen antike Autoren die Gefahr, dass man sich eitlen Hoffnungen hingibt und es darüber versäumt, etwas zu tun. Auf der anderen Seite gibt es die positive Sicht auf die Hoffnung auch schon in der Antike.
DOMRADIO.DE: Kommen wir noch mal auf die Hoffnung in Beziehung zu Glaube und Religion zu sprechen. Inwieweit kann Hoffnung auch in unserer säkularisierten Welt über das Hier und Jetzt hinausgehen? Kann es da bei älteren Menschen auch eine Neigung zur Transzendenz geben, die mit Hoffnung zu tun hat?
Grethlein: Das haben Psychologinnen und Psychologen zuletzt festgestellt, dass gerade alte Menschen wieder zur Transzendenz neigen. Man spricht dann von der Gerontotranszendenz, und die kann sich auf ein Jenseits richten. Das muss aber jetzt nicht unbedingt christliche Formen annehmen.
DOMRADIO.DE: Wie kann sich Hoffnung denn ganz konkret äußern - zum Beispiel im Gebet. Würden Sie sagen, dass das Vaterunser auch ein Gebet der Hoffnung ist?
Grethlein: Auf jeden Fall. Ich glaube, das Vaterunser ist ein Gebet der Hoffnung. Interessanterweise ein Gebet, das sowohl diesseitige als auch jenseitige Hoffnung ausdrückt. Es geht um das tägliche Brot, aber auch um die Vergebung der Schuld. Das richtet sich sowohl auf das Diesseits als auch auf das Jenseits.
Ich glaube, dass jedes Gebet irgendwie mit Hoffnung zu tun hat. Im Gebet wendet man sich ja immer an Gott und bringt zum Ausdruck, dass die Zukunft nicht verfügbar ist. Und das ist wiederum essenziell für die Hoffnung. Unsere Hoffnungen richten sich auf Dinge, die gut, möglich und unverfügbar sind. Und genau das bringt man im Gebet, vor allem in den Bitten des Gebetes, zum Ausdruck.
DOMRADIO.DE: Wir haben darüber gesprochen, dass Hoffnung helfen kann, dass Hoffnung aber auch trügen kann. Warum können und sollten wir auf Hoffnung heute nicht verzichten?
Grethlein: Hoffnung kann trösten und vertrösten. Diese tröstende Kraft der Hoffnung brauchen wir. Man darf auch nicht fragen, ob man in der Gegenwart noch hoffen kann. Denn ich glaube, solange es Menschen gibt, werden sie immer hoffen. Man müsste die Frage anders formulieren und fragen: Wie können und sollen wir heute noch hoffen? Worauf können wir hoffen? Aber wir würden uns einer ganz wichtigen Kraftquelle berauben, wenn wir die Hoffnung bekämpfen und sie infrage stellen.
DOMRADIO.DE: Aus der Bibel kennen wir das Versprechen einer "Hoffnung wider der Hoffnung". Auf unsere Situation bezogen könnte das heißen, obwohl viele Wissenschaftler sagen, wir können gar nichts mehr tun, die Klimakrise hat uns längst im Griff, trotzdem noch daran zu arbeiten, Lösungen zu finden und nicht aufzugeben – zu resignieren?
Grethlein: Ja, Hoffnung verträgt sich auch mit Pessimismus. Auch Pessimistinnen und Pessimisten können oder werden wahrscheinlich Hoffnungen haben. Also Angst auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite schließen sich nicht aus. Wenn wir Angst haben, dann hoffen wir natürlich auch, dass das, was wir befürchten, nicht eintritt.
DOMRADIO.DE: Und welche Bedeutung kann Hoffnung für uns ganz privat haben? Wenn wir zum Beispiel eine schwerwiegende Krankheitsdiagnose bekommen.
Grethlein: Dann ist Hoffnung natürlich auch ganz essenziell für den Heilungsprozess. Da gibt es psychologische Studien, die zeigen, dass Heilungen schneller voranschreiten, wenn die Menschen auf Besserung hoffen. Das wäre die psychologische Komponente. Und das zeigt einmal mehr, wie verschieden Hoffnungen sind, auf wie viele verschiedene Gegenstände Hoffnungen sich richten können. Das reicht vom Abendessen über die eigene Gesundheit bis zum ewigen Leben.
DOMRADIO.DE: Hoffnung als Tugend, Hoffnung als eine Haltung. Sie haben das sehr schön ausgedrückt: Hoffnung steht für unsere Offenheit zur Welt und zur Zukunft. Worauf hoffen Sie?
Grethlein: Wenn sie so fragen und ich ganz schnell antworten muss, würde ich sagen: Ich hoffe, dass es meinen Kindern gut geht, dass sie gesund sind und dass sie sich gut entwickeln. Ich hoffe aber natürlich auch auf ein Ende des Krieges in der Ukraine. Ich hoffe auf Frieden in Israel. Da ist ganz, ganz, ganz viel dabei.
DOMRADIO.DE: Auch Hoffnung, die sich aufs Transzendente bezieht und über unser Hier und Jetzt hinausgeht?
Grethlein: Die habe ich auch. Ja, ich glaube auch, dass die spezifischen kleinen Hoffnungen, die wir haben, am Ende eingebettet sind in eine große Grundhoffnung, die noch keinen klaren Gegenstand hat - aber oft einen religiösen Charakter.
DOMRADIO.DE: Eine Hoffnung, die vielleicht auch etwas mit Vertrauen zu tun hat. Vertrauen, dass wir dann doch aufgehoben sind?
Grethlein: Auf jeden Fall: Wer auf Gott hofft, vertraut auf Gott.
Das Interview führte Johannes Schröer.