Ohne es zu wissen, bestand Kamala Harris (59) ihren ersten Härtetest auf dem Weg zur Nominierung schon Ende Juni. Nur wenige Minuten nach dem katastrophalen Auftritt Joe Bidens im TV-Duell mit Donald Trump bewies sie Loyalität zu ihrem Präsidenten - und Schlagfertigkeit. Eine schwache Debatte mache dreieinhalb Jahre an erfolgreichem Regieren im Weißen Haus nicht ungeschehen, verteidigte sie auf CNN den 81-jährigen Präsidenten.
Eine neue Generation?
Ohnehin hat sie sich während der innerparteilichen Debatte, die zum Verzicht führte, geschickt an der Seite ihres Chefs positioniert; und findet sich nun in der Favoritenrolle wieder, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Biden dankte ihre Treue mit der Empfehlung, sie Mitte August auf dem Parteitag der Demokraten zu nominieren.
Sollte das Votum auf sie fallen, ginge mit ihr eine Frau ins Rennen um das Weiße Haus, die für eine neue Generation steht. Als in Kalifornien aufgewachsene Tochter von Einwanderern aus Jamaika und Indien repräsentiert sie das multiethnische Amerika. Wenngleich sie aus Sicht von Kritikern als Vizepräsidentin eine eher blasse Figur machte.
Das Bild vom "liebenden Gott"
Ihre religiösen Wurzeln sind ebenso vielfältig geprägt. Während der Katholik Biden noch ein traditionelles Religionsverständnis hatte, steht sie für eine wachsende Gruppe von Amerikanern, die aufgrund ihrer gemischten ethnischen und kulturellen Herkunft gelebte Erfahrung mit verschiedenen Religionen mitbringen.
In einer schwarzen Baptisten-Gemeinde in Kalifornien lernte sie das Bild eines "liebenden Gott" kennen. Glaube sei für sie seit ihren Kindheitstagen etwas, das man leben und durch Handeln demonstrieren müsse.
Nach Gerechtigkeit streben
Harris lernte als Kind die religiöse Heimat ihrer Mutter Shyamala kennen und erlebte die Welt des Hinduismus. Ihre Überzeugung, immer an der Seite der Schwächsten zu stehen, stammt ihr zufolge auch aus dieser Tradition - offenbar unter Ausklammerung krasser Formen des Kastenwesens.
"Alle Religionen lehren uns, nach Gerechtigkeit zu streben." Sie verbinde "Spiritualität und Genie" und stehe für die gewaltfreie Tradition der afroamerikanischen Gemeinschaft, beschreibt Pastor Amos Brown von der "Third Baptist Church" in San Francisco Harris. Diese besucht Harris gelegentlich zum Gottesdienst.
Ihre Heirat 2014 mit Douglas Emhoff brachte sie auch in engeren Kontakt mit dem Judentum, dem sie genauso offen gegenübersteht wie dem Christentum und dem Hinduismus. Ihre politische Haltung zu Israel beurteilen jüdische US-Organisationen sehr unterschiedlich. In der eher liberalen "J Street"-Lobby hat sie nur wenige Anhänger. Dafür sprach sie schon auf der Jahreskonferenz der größten Pro-Israel-Gruppe AIPAC.
Keine Antworten auf Fragen der Missbrauchsopfer
Als Bezirksanwältin von San Francisco und später als Generalstaatsanwältin von Kalifornien geriet sie allerdings in die Schusslinie kirchlicher Missbrauchsopfer. Die Forderung, Akten über Priester, die sich an Minderjährigen vergriffen hatten, herauszugeben, blieb unbeantwortet.
Kritik in konservativen Kirchenkreisen erntete Harris 2014 für ihren von 15 anderen Bundesstaaten unterschriebenen Schriftsatz, mit dem sie als Generalstaatsanwältin in einem Rechtsstreit Partei für das "Verhütungsmandat" der Gesundheitsreform von Barack Obama ergriff. Das Oberste Gericht bezog die gegenteilige Position und erlaubte in dem Urteil religiösen Arbeitgebern, ihren Angestellten die Finanzierung von Verhütungsmitteln aus Gewissensgründen zu verweigern.
Abtreibungen werden Mittelpunkt im Wahlkampf
Der Zugang zu Abtreibungen werde wahrscheinlich im Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stehen, prognostiziert der Vize-Präsident der gemeinnützigen "Kaiser Family Foundation", Larry Levitt - vor allem, um Wählerinnen zu mobilisieren. Aber auch Wähler.
Die öffentliche Meinung zu Schwangerschaftsabbrüchen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Fast zwei Drittel der Erwachsenen in den USAplädieren heute dafür, Abtreibungen sollten in allen oder den meisten Fällen legal sein, so eine Pew-Umfrage aus dem Monat April.
Soziale Gerechtigkeit und Befreiungstheologie
Zu Harris Unterstützern gehört die "Poor Peoples Campaign" des Predigers William Barber, der ein Netzwerk progressiver Kirchen anführt. Die Anhänger halten den Einsatz für das geborene Leben für ebenso wichtig wie den für das ungeborene. Hier fühlt sich Harris genauso zu Hause wie unter Befreiungstheologen, die soziale Gerechtigkeit und das Los der Armen ins Zentrum ihrer Verkündigung stellen.
Noch haben die Demokraten Harris nicht auf den Schild gehoben. Offen gegen sie votiert niemand unter den Partei-Granden. Allein die Säulenheiligen der Partei, Barack Obama und Nancy Pelosi, schweigen bislang.