Katholische Nachrichtenagentur: Kardinal Hollerich, Sie kommen aus einem kleinen europäischen Land – und haben eine große Bedeutung in der Weltkirche. Ist es ein Vorteil, aus einem Land wie Luxemburg zu kommen?
Kardinal Jean-Claude Hollerich (Erzbischof von Luxemburg und Präsident der EU-Bischofskommission Comece): Es gibt Vorteile. Wenn man aus einem kleinen Land kommt, muss man sich ja andauernd auf die Anderen einstellen. Wenn man aus einem großen Land kommt, erwartet man hingegen, dass sich die Anderen auf einen einstellen. Das gibt Flexibilität, die sicher auch in der Kirche notwendig ist.
KNA: Worin unterscheidet sich die Weltbischofssynode vom Synodalen Weg in Deutschland, und wie blicken Sie auf den Synodalen Weg?
Hollerich: Der synodale Weg der Weltkirche ist für die Bischöfe ein Weg des Zuhörens. Für alle. In Luxemburg treffen sich dazu die Gruppen in den Gemeinden und reden miteinander. Und der synodale Weg der Weltkirche bedeutet auch, dass ich mich als Bischof ändern muss. Dass wir uns alle ändern müssen, als Ergebnis des Zuhörens. Es reicht nicht aus, eine Seite zu überzeugen.
Wir hören miteinander durch den Heiligen Geist auf den Ruf Gottes zur Veränderung, um dann gemeinsam weiterzugehen. Und zwar alle zusammen: Mir ist wichtig, dass in diesem synodalen Prozess nicht nur die Gemeinden zu Wort kommen, sondern auch Menschen, die der Kirche fernstehen. Dass Menschen, die eher zu den Randgruppen gehören, gehört werden. In meiner Diözese haben wir auch im Gefängnis über den synodalen Weg gesprochen. Und es war mir wichtig, auch den Lesben- und Schwulenverband um seine Meinung zu fragen.
KNA: Wo muss sich denn die Kirche aus Ihrer Sicht verändern?
Hollerich: Wir reagieren in unserer Zeit, ohne zu überlegen. Wir müssen aufhören, zu reagieren. Wir müssen uns ganz anders aufstellen. Wir haben eine große Zivilisationsveränderung. Wir sind im Jahr 0 des digitalen Zeitalters. Und das wird so gravierende Veränderungen haben, dass wir untergehen werden, wenn wir uns nicht anders aufstellen. Wir können nicht die Antworten von früher auf die Fragen von morgen geben. Das scheint mir evident zu sein. Der Zivilisationswandel, den wir heute erleben, ist der größte Wandel seit der Erfindung des Rades. Die Kirche ist immer mit der Zeit gegangen und hat sich immer angepasst. Aber man hatte auch immer viel mehr Zeit, um das zu tun. Heute müssen wir schneller sein. Sonst verlieren wir den Anschluss und können nicht mehr verstanden werden.
KNA: Wie lässt sich denn die Botschaft Jesu an Menschen des digitalen Zeitalters verkünden? Was stellen Sie sich vor?
Hollerich: Indem wir sehr menschlich sind. Gerade das Menschliche wird sehr gefragt werden. Ich hatte am Samstagabend eine große Jugendmesse in Luxemburg. Die Kirche war rappelvoll - natürlich haben alle vorher einen Covid-Check gemacht. Aber es war faszinierend für alle, etwas gemeinsam erleben zu können. Die Jugendlichen wussten, dass ich komme, dass ich predige und dass ich die Menschen ernst nehme. In der Messe gab es eine szenische Darstellung, die von den Jugendlichen vorbereitet worden war. Und da sage ich hinterher nicht, 90 Prozent seien sehr gut, und zehn Prozent seien ein Fehler, und das hätte man jetzt so oder so machen müssen. Vielmehr versuche ich, auf die Dinge, die die Jugendlichen mir sagen wollen, einzugehen und gemeinsam mit ihnen weiterzugehen. Und das kommt bei den Menschen an.
KNA: In Deutschland haben sich in der letzten Woche 125 katholische Kirchenmitarbeiter als queer geoutet. Hat man das bei Ihnen wahrgenommen?
Hollerich: Ja, das hat man in der Weltkirche wahrgenommen. Nun ist bei uns in Luxemburg aber die Situation nicht so dramatisch wie in Deutschland: Ich weiß, dass ich unter meinen Priestern Homosexuelle habe. Die einen haben es mir gesagt, bei den anderen merkt man es. Ich habe bei den Laien homosexuelle Frauen und Männer. Und die wissen, dass sie in der Kirche ein Zuhause haben. Bei uns wird niemand gekündigt, weil er homosexuell ist, bei uns wurde auch nie jemand deswegen gekündigt. Das ist ein deutsches Problem, das es sonst in der Kirche nicht gibt. Auch Geschiedene und Wiederverheiratete sind bei uns in der Kirche tätig - ich kann die ja nicht rausschmeißen. Die würden ja arbeitslos werden. Wie kann denn so etwas christlich sein?
KNA: Das heißt, die deutsche Kirche hat sich mit ihrem Arbeitsrecht unnötig Probleme gemacht?
Hollerich: Ganz sicher. Man muss menschlich bleiben. Sehen Sie: Ich habe mit Jugendlichen jetzt schon mehrfach Reisen nach Thailand gemacht. Da haben wir Kirchen im Dschungel gebaut, und solche Sachen. Da waren auch Homosexuelle dabei, Mädchen wie Jungen. Aber ich bin doch als Bischof wie ihr Vater. Ich kann sie doch nicht verstoßen. Für mich haben sie denselben Wert wie die anderen Menschen auch.
KNA: Und wie gehen Sie dann mit der kirchlichen Lehre um, dass Homosexualität Sünde sei?
Hollerich: Ich glaube, dass das falsch ist. Ich glaube aber auch, dass wir hier in der Lehre weiterdenken. So, wie sich der Papst in der Vergangenheit geäußert hat, kann das zu einer Veränderung in der Lehre führen. Denn ich glaube, dass das soziologisch-wissenschaftliche Fundament dieser Lehre nicht mehr stimmt. Was man früher verurteilte, war Sodomie. Man dachte damals, in den Spermien des Mannes ist das ganze Kind erhalten. Und das hat man einfach auf homosexuelle Männer übertragen. Es gibt aber gar keine Homosexualität im Neuen Testament. Da ist nur von homosexuellen Handlungen die Rede, was teilweise heidnische Kulthandlungen waren. Das war natürlich verboten. Ich glaube, hier wird es Zeit, dass wir eine Grundrevision der Lehre machen.
KNA: Wie nehmen Sie als Nachbar die Situation der Kirche in Deutschland wahr?
Hollerich: Sie ist sehr gespalten. Es tut mir immer leid, wenn ich auf Facebook sehe, wie sich die Linken und die Rechten streiten. Man kann ja verschiedene Meinungen haben und trotzdem zur selben Familie gehören. Wenn man sich aber jeden Tag kräftig die Meinung sagt, wird es schwer. Da glaube ich, dass man sich eher etwas zurückhalten sollte, und lieber zusammen auf dem Weg bleiben sollte. Wenn wir einen synodalen Weg gehen wollen, gibt es Leute, die rechts gehen und Leute, die links gehen, aber wichtig ist es doch, dass wir gemeinsam auf dem gleichen Weg bleiben. Wir müssen immer die Mission der Kirche bedenken: Das Eintreten für Flüchtlinge, für Leute, die am Rande der Gesellschaft stehen, in denen wir Christus erkennen, für soziale Gerechtigkeit. Und ich glaube, man kann nur eine Reform machen, wenn man gleichzeitig die Mission der Kirche lebt.
KNA: Einer ihrer direkten Nachbarn ist Kardinal Woelki in Köln. Was raten Sie ihm?
Hollerich: Ich kenne und schätze Kardinal Woelki, schon seit meiner Zeit in Tokio, wo es ja spezielle Beziehungen zu Köln gibt. Aber es scheint ja so zu sein, dass er in seinem Bistum bei einer großen Mehrheit nicht mehr willkommen ist. Ich kann nicht sagen, was er tun soll. Aber wenn es mir so ergehen würde, würde ich meinen Rücktritt einreichen. Nicht, weil ich Schuld hätte: Ich glaube, dass sich Kardinal Woelki wirklich intensiv für die Aufarbeitung des Missbrauchs eingesetzt hat. Aber er hat eine sehr schlechte Kommunikation. Das erste Gutachten nicht zu veröffentlichen, das kann man im digitalen Zeitalter nicht machen. Und ich finde es auch schwierig, wenn die Kosten der Gutachten die Zahlungen für die Betroffenen übersteigen. Dann stimmt etwas nicht. Aber Kardinal Woelki ist ein guter Christ, und er wird sicher für sich den richtigen Weg finden.
KNA: Was würden Sie denn tun?
Hollerich: Ich würde irgendwo in eine Gemeinde gehen. Eine Studentengemeinde zum Beispiel. Als Christ muss ich ja nicht oben sein, um meinen Glauben zu leben. Ich möchte Christ sein, Christus nachfolgen, so gut es geht, auch mit meinen Begrenzungen.
KNA: Wie kann die Kirche heute das verlorene Vertrauen der Menschen zurückgewinnen?
Hollerich: Ich glaube, wir brauchen vollkommene Transparenz. Man muss merken, dass es den Bischöfen ein Anliegen ist, dass man spürt, wie schrecklich der Missbrauch ist. Dass man sich wirklich wegen der Betroffenen entschuldigt und nicht wegen der Kirche. Dass man sich entschuldigt, weil man betroffen ist von dem Leid der Opfer. Und dass man als Bischof auf seine Kirche hört. Die Leute sollten nicht denken, da sitzt jemand ganz oben, der die Entscheidungen trifft. Es sollte vielmehr so sein, dass die Bischöfe gemeinsam mit den Gläubigen auf dem Weg sind, auf sie hören und gemeinsam die Entscheidungen treffen.