dpa: Sie haben kürzlich gesagt: "Auch wenn es manche Leute nicht mehr hören wollen, ich werde weiter auf die Not der Flüchtlinge aufmerksam machen." Woran merken Sie, dass manche das nicht mehr hören wollen?
Rainer Maria Kardinal Woelki: Ich merke das an Zuschriften, die mich erreichen. Ich merke es daran, dass Politiker darauf hinweisen, in diesem Jahr seien - in Anführungsstrichen - "Gott sei Dank" weniger Flüchtlinge nach Deutschland durchgekommen. Sie wollen uns glauben machen, dass wir das Problem mit diesen "Störenfrieden" von außen nun endlich in den Griff bekommen haben. Aber das ist eine große Lebenslüge.
dpa: Das Problem scheint doch aber im Moment unter Kontrolle. Was ist dann die Lüge?
Woelki: Die Lüge besteht darin, dass wir glauben, diese Menschen auf Distanz halten zu können. Oder, mit den Worten des Philosophen Wolfram Eilenberger: Dass wir glauben, in einem mauerlosen Paradiesgarten leben zu können.
dpa: Deutschland kann doch aber wirklich nicht alle Notleidenden dieser Welt aufnehmen. Müssen Sie das nicht auch mal anerkennen?
Woelki: Natürlich erkenne ich das an. Wir müssen ganz klar sehen, wer hier bei uns Asyl bekommen kann und wer nicht. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Europa endlich ein solidarisches Europa wird. Es kann nicht sein, dass ein, zwei Länder alles allein stemmen.
dpa: Das klappt ja nun mal nicht. Das hat Merkel das ganze letzte Jahr versucht, aber ohne Erfolg. Die anderen wollen nicht.
Woelki: Sie stehen aber weiter in der Pflicht. Europa ist doch selbst ein Kontinent, der durch die Integration verschiedener Völker und Kulturen gewachsen ist. Denken wir doch nur mal daran, wie viele Menschen wir hier in Deutschland unmittelbar nach dem Krieg integriert haben, die Vertriebenen.
dpa: Das waren aber Menschen, die Deutsch sprachen und aus dem gleichen Kulturkreis kamen.
Woelki: Die hatten aber schon eine andere Mentalität als zum Beispiel die Rheinländer hier. Meine Eltern kamen selbst aus dem Osten, und das war nicht so einfach. Dennoch hat es geklappt.
dpa: Ist es nicht so, dass gerade auch Katholiken Angst vor einer schleichenden Islamisierung haben? Und ist das wirklich so abwegig? Hier in der Innenstadt von Köln geht in der großen Basilika St. Gereon jedes Jahr nur ein Häuflein Kinder zur Erstkommunion, aber die Moscheen sind voll.
Woelki: Ich glaube, dass diese Ängste nicht durch Fakten belegt sind. Es sind im vergangenen Jahr circa 890 000 Flüchtlinge zu uns gekommen, das ist vielleicht ein Prozent unserer Gesamtbevölkerung. Da kann man nicht davon sprechen, dass wir islamisiert oder überrollt werden. Wir müssen vielmehr Begegnungsmöglichkeiten schaffen, einander kennenlernen, das Verbindende bestärken und Demokratie und Menschenrechte vorleben.
dpa: Die Kirche hat zweifellos viel in der Flüchtlingshilfe geleistet. Aber Hand aufs Herz: Sind Sie nicht auch froh, dass Sie endlich ein großes Thema gefunden haben, mit dem Sie nun permanent in der Öffentlichkeit präsent sind?
Woelki: Die Kirche hat von ihren Ursprüngen her immer auf der Seite aller Notleidenden zu stehen. Im Moment glaube ich in der Tat, dass wir uns als Kirche unserer Berufung bewusst geworden sind und hier einen wichtigen Beitrag geleistet haben, Menschen aufzunehmen und in unserer Gesellschaft zu integrieren.
dpa: Wodurch sich die Position der Kirche innerhalb der Gesellschaft nach links verschoben hat. In Bayern
ist die katholische Kirche jetzt fast die stärkte Oppositionsbewegung zur CSU.
Woelki: Ich tue mich schwer damit, das Christentum links oder rechts einzuordnen. Ich würde einfach sagen, wir haben die Aufgabe, dem Evangelium ein konkretes Gesicht zu geben. Und dabei ist nicht das
Wort entscheidend, sondern die Tat. Wenn uns das mitunter in Konflikt mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Parteien bringt, dann haben wir da Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.
dpa: Nächstes Jahr ist Bundestagswahlkampf. Wie weit werden die Bischöfe da bei ihrer Positionierung gehen, etwa in Bezug zur AfD?
Woelki: Wir werden keine Wahlempfehlungen oder dergleichen geben. Wir vertreten unsere Positionen unabhängig vom Bundestagswahlkampf.
dpa: Sie hatten ja aber schon mal mit Blick auf die AfD gesagt: "Solche Alternativen brauchen wir nicht." Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Woelki: Ich sage einfach, dass bestimmte Positionen mit dem Evangelium nicht vereinbar sind. Wir sind für Solidarität, und Solidarität hat immer auch ein Herz für diejenigen, deren Leben bedroht ist. Deshalb müssen wir auch doppelt ran: Echte Integration leisten und die Fluchtursachen in den Herkunftsländern
bekämpfen – Not, Gewalt, Krieg.
dpa: Dieses starke Betonen der Solidarität - hat das auch etwas mit Papst Franziskus zu tun?
Woelki: Natürlich hat es mit Papst Franziskus zu tun, aber es ist nicht völlig neu. Wir finden bei allen Päpsten das Engagement für den Nächsten.
dpa: Bei Papst Benedikt war es doch aber eher ein theoretischer Anspruch. Er war doch in erster Linie Theologe und keiner, der wirklich selbst auf die Menschen zuging.
Woelki: Er hat ein anderes Temperament, aber er hat immer betont, dass die Kirche an der Seite der Armen zu stehen hat. Ich kann ja als Bischof auch nur bestimmte Dinge betonen, aber ohne die vielen
Helfer in unserer Diözese könnte ich nichts ausrichten.
dpa: Was man in der Flüchtlingskrise ja deutlich gesehen hat, ist: Man braucht vorhandene Strukturen, um helfen zu können. Zum Beispiel die katholischen Pfarrgemeinden. Was bedeutet es dann, wenn dieses
Gemeindeleben in den nächsten 20, 30 Jahren ausstirbt? Die katholische Kirche wird in Deutschland ja keine Volkskirche bleiben.
Woelki: Wir wollen schon Volkskirche bleiben, auf jeden Fall in dem Sinne, dass wir bei und mit den Menschen leben, auch bei ihren Fragen. Und wir sehen ja auch, dass es Menschen gibt, die sagen: Weil
sich die Kirche beispielsweise in der Flüchtlingsfrage so positioniert, trete ich nicht aus der Kirche aus
oder trete sogar wieder ein oder mache einfach so bei einem ihrer Projekte mit. Die Kirche hat hier also eine neue Relevanz gewonnen.
dpa: Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie galten als Ziehsohn des konservativen Kardinals Meisner. Jetzt werden sie als der deutsche Bischof wahrgenommen, der sich am stärksten für Flüchtlinge einsetzt. Hat es da bei Ihnen eine Entwicklung gegeben? Haben die Jahre in Berlin Sie verändert?
Woelki: Es ist ein sowohl als auch. Ich habe mich auch schon als Kaplan darum bemüht, soziale Not wahrzunehmen. Ich glaube, dass ich mich in meiner Grundhaltung nicht verändert habe. Dass ich dann
als Sekretär des Erzbischofs ganz andere Aufgaben hatte, erklärt sich von selbst. Aber das andere ist auch richtig, es wäre ja auch schlimm, wenn ich mich überhaupt nicht weiterentwickelt hätte. Berlin hat sicher das seine dafür getan. Ich bin für diese Berliner Jahre immens dankbar.
Das Interview führte Christoph Driessen.
(Anm. der Red.: Das Gespräch mit dem Kölner Erzbischof führte die dpa im Vorfeld des Anschlags in Berlin)