Kirche in Not erinnert an Vertreibung von Christen im Irak

"Es bleibt eine angespannte Situation"

Vor zehn Jahren mussten tausende Christen im Irak vor der Terrororganisation "Islamischer Staat" fliehen. Tobias Lehner von der Hilfsorganisation "Kirche in Not" erinnert sich. Auch heute noch sieht er Probleme für Christen im Irak.

Autor/in:
Tim Helssen
Vier Männer, chaldäische Christen, warten an einem großen Kreuz an einer Straße auf die Durchfahrt von Papst Franziskus nach Erbil am 7. März 2021 in Karamless, Irak. / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Vier Männer, chaldäische Christen, warten an einem großen Kreuz an einer Straße auf die Durchfahrt von Papst Franziskus nach Erbil am 7. März 2021 in Karamless, Irak. / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wie dramatisch war denn die Situation für die Christen vor zehn Jahren in der Ninive-Ebene im Irak? 

Tobias Lehner (Kirche in Not): Man kann sich das gar nicht dramatisch genug vorstellen. Im Juni 2014 hatte der Islamische Staat (IS) ja schon die Stadt Mossul erobert und rückte dann in die Ninive-Ebene vor, die seit Jahrhunderten christliches Siedlungsgebiet war und ist. Am 6. August 2014 war es dann so weit. Die Truppen waren direkt vor den Toren der Stadt. 

Es begann das Bombardement, es begannen Morde an Christen. Nicht umsonst wurde dieser Mord ja auch als Völkermord bezeichnet, ebenso wie an den Jesiden. Die Christen sind über Nacht geflüchtet, wussten nicht, wohin. In das benachbarte Erbil in der autonomen Region Kurdistan. 

Sie sind dorthin gegangen, wo sie sich Hilfe erhofften, nämlich zu den Einrichtungen der Kirche. Einen Tag später haben wir bei "Kirche in Not" einen Anruf bekommen vom chaldäisch-katholischen Bischof von Erbil, der sagte, er habe Zehntausende Menschen, die bei ihm im Garten campieren, er müsse die versorgen und unterbringen. Staatliche Hilfe gab es keine. 

Und so war "Kirche in Not" in der Situation, dass wir als eine der Ersten vor Ort helfen mussten, diese Menschen zu versorgen und unterzubringen. 

Tobias Lehner

"Das waren Lebensmittelhilfen, Medikamentenhilfen, also ein ganzes Bündel von Maßnahmen."

DOMRADIO.DE: Was genau haben sie dann gemacht? Wie konnten sie den Helfern, den Menschen konkret helfen und sie unterstützen? 

Lehner: Das begann dann als erstes natürlich mit der Finanzierung der dringendsten notwendigen Bedürfnisse. Es wurden Zeltstädte errichtet, es wurden medizinische Stationen errichtet. Sogar ein eigenes Krankenhaus ist im Laufe der Zeit entstanden. Schulen, die in Containern untergebracht waren. 

Zerstörtes Kreuz an einer Kirche im Irak / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Zerstörtes Kreuz an einer Kirche im Irak / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Die Christen wussten ja nicht, wie lange sie dort bleiben müssen. Einige sind ins Ausland gegangen, die Mehrheit ist aber geblieben und hat einfach vor Ort konkret Hilfe gebraucht. 

Das waren Lebensmittelhilfen, Medikamentenhilfen, also ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wir haben das mal gezählt. Jetzt, nach diesen zehn Jahren, haben wir über 500 Projekte im Umfang von fast 60 Millionen Euro dort unterstützt. Das zeigt schon, wie sehr wir da gefordert waren. Es ist die größte Hilfsaktion in der bisherigen Geschichte unseres Hilfswerks. 

Tobias Lehner

"Ein riesiger Aufbauaufwand, den auch wir von "Kirche in Not" unterstützt haben."

DOMRADIO.DE: Nun melden Sie, dass ein großer Teil der vertriebenen Christen in ihre alte Heimat zurückgekehrt ist. Wie geht es denn den Menschen heute in Ninive? Wie sieht ihr Leben jetzt aus? 

Lehner: Vielleicht noch einen Schritt zurück: Ende 2017 war die Ninive-Ebene wieder militärisch befreit von den Truppen des IS. Schon bald sind Christen zurückgekehrt und haben dort Bestandsaufnahme gemacht.

Es wurden Teams gebildet von Ehrenamtlichen, von vielen Ingenieuren, Seelsorgern usw., die einfach geschaut haben, was alles zerstört ist. Der Befund war erschreckend. Jedes zehnte zivile Gebäude dort war zerstört. Ein riesiger Aufbauaufwand, den auch wir von "Kirche in Not" unterstützt haben. 

Blick auf eine Straße in Telskuf (Irak). Im Hintergrund ist die chaldäisch-katholische Kirche Sankt Georg zu sehen.  / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Blick auf eine Straße in Telskuf (Irak). Im Hintergrund ist die chaldäisch-katholische Kirche Sankt Georg zu sehen. / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Das Interessante daran – und vielleicht für deutsche Ohren etwas ungewöhnlich, es wurde beim Aufbau mit den Kirchen und mit den Gemeindezentren begonnen. Der Grund liegt auf der Hand. Das haben sich die Vertreter dort auch gewünscht. Sie haben gesagt: Wo es eine Kirche gibt, wo es ein Gemeindezentrum gibt, da wird nicht nur Gottesdienst gefeiert, da kommen die Menschen, da versammeln sie sich, da finden sie Hilfe, da haben sie einen Ort, wo sie erleben, hier gibt es eine Zukunft. 

Dieses Stichwort "Zukunft": Mittlerweile sind nach unseren Zahlen gut die Hälfte der vertriebenen Christen dorthin zurückgekehrt. Lokale Angaben sprechen sogar von etwas mehr. Das ist natürlich nicht so zu erfassen. Sie leben dort, sie haben wieder aufgebaut, sie haben dort wieder eine Heimat. 

Aber natürlich bleiben viele Probleme. Die Angst vor der Sicherheit, die Angst auch jetzt, vor der Eskalation im Nahen Osten, auch durch die Erfahrung, immer noch als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Es bleibt eine angespannte Situation, aber es gibt dort auch viel Aufbruch und viel Neuanfang. 

Tobias Lehner

"Es bleibt natürlich auch die politische Unsicherheit, dass sich die Christen immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlen."

DOMRADIO.DE: Wie sieht es jetzt heute aus? Sind sie Christen dort jetzt in Sicherheit? 

Lehner: Sie sind in relativer Sicherheit, würde ich sagen. Wir haben natürlich auch zum Jahrestag wieder vermehrt Kontakt gehabt. Man schaut auch von der Ninive-Ebene aus sehr erschreckt auf das, was gerade im Heiligen Land und was im Libanon passiert. 

Der IS ist zwar militärisch besiegt, aber die Anhänger des IS sind ja noch da. Das ist die sunnitische Seite. Es gibt aber auch schiitische Milizen, die sich gebildet haben, die natürlich auch mit engsten Kontakten zu anderen Milizen im Nahen Osten, zu Terroreinheiten im Nahen Osten stehen. Da bleibt es abzuwarten, wie sich diese Situation auswirkt. 

Es bleibt natürlich auch die politische Unsicherheit, dass sich die Christen immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlen. Da geht es um viele Fragen, wie zum Beispiel Entschädigung für die entstandenen Schäden, die der irakische Staat versprochen hat, die aber viel zu wenig kommen. 

Es geht um Eigentumsfragen, aber es geht auch einfach darum, als gleichberechtigte Bürger des Irak leben zu dürfen. Natürlich spielt auch das Wirtschaftliche eine Rolle. Es braucht Perspektiven, es braucht Arbeitsplätze, es braucht Studienplätze. Da versuchen wir als "Kirche in Not" jetzt nach zehn Jahren anzuknüpfen und weiterzuhelfen. 

Das Interview führte Tim Helssen.

Christen im Irak

Der Irak zählt zu den ältesten Siedlungsgebieten des Christentums. Dessen Ursprünge im Zweistromland werden bis auf den heiligen Apostel Thomas zurückgeführt. Im irakischen Kernland, dem früheren Mesopotamien, stellten Christen vor der islamischen Eroberung im 7. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit. Ihr Anteil nahm danach immer weiter ab.

Papst Franziskus zu Besuch im Irak / © Ameer Al Mohammedaw (dpa)
Papst Franziskus zu Besuch im Irak / © Ameer Al Mohammedaw ( dpa )
Quelle:
DR