DOMRADIO.DE: Prof. Wolf, Sie durften schon vor der offiziellen Öffnung in die vatikanischen Archive. Ist das so, wie man es sich vorstellt?
Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf (Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster): Sie haben wahrscheinlich doch zu viel Dan Brown gelesen oder Filme gesehen. Luftdicht abgeschlossene gläserne Büchertresore hat Dan Brown für seine Thriller erfunden. Erst mal ist das vatikanische Archiv ein Archiv wie jedes andere. Es umfasst aber 85 laufende Kilometer Akten. Dort hat die Kirche die Weltgeschichte eingelagert und es ist etwas ganz Besonderes, dort arbeiten zu dürfen.
Es ist wahrscheinlich auch das einzige Archiv, das man nur durch täglichen Grenzübertritt besuchen kann. Sie müssen jedes Mal an der Porta Santa Ana von der Republik Italien in den Kirchenstaat einreisen. Dafür braucht man so eine Art Visum, das erst mal nur für einen Tag, später für eine Woche gültig ist. Ich habe inzwischen eins für ein ganzes Jahr.
Wenn junge Mitarbeiterinnen oder Doktoranden zum ersten Mal für sechs Tage dort eine Arbeitserlaubnis bekommen, ist es tatsächlich so, dass sie mir am fünften Tag sagen, dass sie dringend weiter in den Archiven arbeiten müssen, weil es dort so eine Fülle an Material gibt. Dann bin ich richtig glücklich, weil es mir wieder gelungen ist, einen jungen Menschen mit dem Virus des vatikanischen Archivs zu infizieren. Wer dieses Virus einmal hat, wird es nicht mehr los.
DOMRADIO.DE: Das Wissen, was Sie durch die Einsicht in die vatikanischen Archive erlangt haben, wollen Sie nicht für sich behalten. Sie wollen es jetzt weitergeben in einer Vorlesungsreihe mit dem Titel: "Die geheimen Archive der Päpste und was sie über die Kirche verraten". Am Dienstag startet der erste Vortrag: "Heiliger Vater, retten Sie uns! - Bittschreiben jüdischer Menschen an Pius XII. aus der Zeit der Shoah". Damit greifen Sie einen höchst umstrittenen Papst auf. Die einen sagen, Pius XII. war ein großer Freund der Juden in schwierigen Zeiten. Die anderen meinen, er habe sie ins Unglück gestürzt. Wer hat recht?
Wolf: Für Schwarz-Weiß-Antworten sind Historiker nicht zu haben. Wir haben jetzt die Möglichkeit, in diese unendlichen Massen des Pontifikats Pius XII. zu schauen. Wir reden über 400.000 Schachteln mit jeweils 1000 Blatt. Das Material über Pius XII. können wir seit 2020 anschauen. Und jetzt schon werden unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche Nuancen deutlich.
Zum einen zeigen diese Bittschreiben von Tausenden jüdischen Menschen an den Papst, dass er die ganze Zeit - von 39 bis 45 - durch einzelne jüdische Frauen und Männer über die Verfolgungssituation und über den Holocaust informiert war. Zum anderen zeigen die Dokumente aber auch, dass die römische Kurie fast immer versucht hat auf die Bittschreiben einzugehen und den Menschen zu helfen. Die politisch diplomatische Ebene ist eine andere.
Der Papst hat sich öffentlich nur ein einziges Mal zum Holocaust geäußert: 1941 in der Weihnachtsansprache sehr verklausuliert. Auch dazu haben wir neue Quellen im Vatikan zur Verfügung, die uns den Entstehungskontext dieser Weihnachtsansprache kapieren lassen. Es wird sehr deutlich, dass der Papst vermeiden möchte, dass seine Äußerungen von irgendeiner der Kriegsparteien instrumentalisiert werden. Es geht ihm um Neutralität oder Überparteilichkeit.
Außerdem würde ich sagen, die Konzentration auf den Papst allein wäre völlig falsch. Der Papst ist absolut abhängig von seinen Mitarbeitern. Was mit einem Bittschreiben passiert, ob es positiv oder negativ aufgenommen wird, hängt wesentlich davon ab, was der zuständige Sachbearbeiter in der Kurie auf dieses Bittschreiben schreibt. Insofern ist die Konzentration auf Pius XII. verkürzt. Wir müssen die ganze Kurie und damit auch die Kirche insgesamt in den Blick nehmen.
DOMRADIO.DE: Ihre Vorträge halten Sie im Rahmen der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2023, die eine besondere Auszeichnung für Sie, aber auch für die Theologie ist.
Wolf: Ja, die Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur ist eine renommierte Auszeichnung, über die ich mich sehr freue. Ich freue mich, dass ein Theologe nach Meeresbiologen und ehemaligen Bundespräsidenten und anderen berufen wird.
Die haben einfach meine Bücher über die vatikanischen Archive und das, was ich zu dem Thema Kirchenreform geschrieben habe, gelesen. Daraus soll ich in einer ganzen Vorlesungsreihe immer wieder neu aus den Quellen des vatikanischen Archivs, die Möglichkeiten für eine Reform der Kirche deutlich machen. Es wird auch darum gehen, wie spannend die Arbeit ist, um den kriminalistischen Prozess. Wir finden in der Vorlesungsreihe heiße und kalte Spuren und kommen dann am Ende doch ans Ziel.
Am Ende geht es darum, dass wir die Möglichkeiten einer Reform zeigen, die die Kirche aus ihrer Geschichte hat. Denn diese Möglichkeiten sind viel größer als heute immer behauptet wird. 'Reformare' - Reform, heißt wörtlich übersetzt 'zurückformen'. Also ein vergessenes, unterdrücktes Modell wieder ausgraben und es wieder annehmen, wieder zur Geltung bringen.
Wir haben selbstverständlich verheiratete Priester in unserer Tradition gehabt. Wir haben sie heute noch in der Ostkirche. Warum sollten wir sie nicht wieder zulassen? Wir haben geweihte Diakoninnen gehabt. Warum sollten wir das nicht wieder machen?
Reformare heißt zurückformen und da sind die Quellen aus den vatikanischen Archiven von zentraler Bedeutung. Da wird nicht irgendwas behauptet, sondern mit Zahlen, Daten und Fakten gearbeitet, die ungeheure katholische Möglichkeit, die ungeheure katholische Fülle an Möglichkeiten, die wir haben, auf den Tisch gelegt.
Ich glaube, dass ich unter anderem deshalb auf diese Professur berufen wurde. Ich freue mich, jeden Dienstag Menschen mit in die vatikanischen Archive nehmen zu dürfen, auch wenn es dort keine gläsernen Büchertresore gibt.
Das Interview führte Katharina Geiger.