1998 öffnete der Papst das Archiv der einstigen Inquisition

Mehr Licht im Dunkel der Kirchengeschichte

Dass Kirchenarchive mitunter Hässliches bergen, förderten zuletzt Missbrauchsstudien zu Tage. Sagenumwoben war lange das Archiv der einstigen Heiligen Inquisition.

Autor/in:
Roland Juchem
Vatikanarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Vatikanarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Früher wurde zeitweise geleugnet, dass es so etwas wie ein Archiv der Inquisition überhaupt gibt. Heute reicht der Hinweis beim Pförtner, man habe im Archiv einen Termin, um den Weg gewiesen zu bekommen. Die einstige Römische Inquisition heißt heute fachlich-nüchtern Dikasterium für die Glaubenslehre.

Öffnung des Archivs

Dass Journalisten und vor allem Wissenschaftler relativ einfach die Räumlichkeiten im Erdgeschoss des "Sant'Ufficio" an der Südwestecke des Vatikan betreten können, haben sie zwei Männern zu verdanken, deren Porträts im Flur des Archivs hängen: Papst Johannes Paul II. und Kardinal Joseph Ratzinger, seinem späteren Amtsnachfolger.

Am 22. Januar 1998 ordnete der Papst aus Polen offiziell die Öffnung des Archivs der einst gefürchteten Römischen Inquisition an. Dafür eingesetzt hatte sich auch der damalige Präfekt der Kongregation, Kardinal Ratzinger. Ein erster Anstoß war jedoch aus Kalifornien gekommen: Von dort schrieb der aus Turin stammende Mittelalterhistoriker Carlo Ginzburg 1979 einen Brief an Johannes Paul II. und bat ihn, die Archive der Inquisition zu öffnen.

Im Vatikan dauert bekanntlich alles etwas länger. So erhielten erst ab 1991 einzelne ausgesuchte Historiker Zugang zum Archiv. Damals kam Alejandro Cifres aus Valencia an die Glaubenskongregation, zunächst als Theologe für Lehrfragen. Der heutige Leiter des Archivs am Dikasterium für die Glaubenslehre wuchs nach und nach in seine Aufgabe hinein. Anfangs sei man dort gar nicht darauf vorbereitet gewesen, standesgemäße wissenschaftliche Arbeit zu ermöglichen, räumte Cifres vor Jahren einmal ein.

Eingang zu den Vatikanarchiven: Archivium Secretum Vaticanum – Vatikanisches Geheimarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Eingang zu den Vatikanarchiven: Archivium Secretum Vaticanum – Vatikanisches Geheimarchiv / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Umfangreiches Archiv

Es bedurfte eines Wissenschaftlers wie Joseph Ratzinger, der als Präfekt damit begann, im vatikanischen Durcheinander Pfade für die Forschung anzulegen. Heute sorgt ein neunköpfiger Stab dafür, dass Wissenschaftler aus aller Welt im historischen Archiv forschen können. Voraussetzung sind - wie bei den meisten historischen Archiven - wissenschaftlicher Auftrag und Referenzen.

Das Archiv der Glaubensbehörde besteht aus knapp 4.900 Archivbänden der 1542 gegründeten "Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis", 380 Bänden der 1966 abgeschafften Kongregation für die verbotenen Bücher sowie 255 Bänden des Inquisitionsarchivs Siena. Dieser historische Schatz lagert in klimatisierten Kellerräumen des viergeschossigen Gebäudes - brandgeschützt und videoüberwacht.

Ein großer Teil des Archivs ging verloren, als Napoleon es bei seinem Kultur-Raubzug 1797 durch Italien nach Paris schaffen ließ. Den späteren Rückweg traten nicht mehr alle Dokumente an. Vor allem die Akten alter Inquisitionsprozesse fehlen. "Die hielt man damals für uninteressant, ihr historischer Wert wurde nicht erkannt", sagt Cifres. Wobei prominente Fälle wie Galileo Galilei oder Giordano Bruno noch vorhanden sind. Aber über sie war das meiste schon bekannt, bevor das Archiv geöffnet wurde.

Archivbestand bis in die Amtszeit von Pius XII. öffentlich zugänglich

Vieles von dem, was noch vorhanden ist, betrifft theologische Debatten. Die meisten der 100 bis 200 Forschungsanträge pro Jahr kommen aus Italien, gefolgt von Anfragen aus dem übrigen Europa und den USA. Aber auch aus China, der Türkei oder Kenia. Die Untersuchungen drehen sich um einzelne Autoren und historische Persönlichkeiten, um Positionen der Kirche zu Naturwissenschaft, Astrologie und Mystizismus, um theologische Kontroversen, teilweise auch um die Beziehungen des Heiligen Stuhls zu einzelnen Staaten und den politischen Systemen des 20. Jahrhunderts.

Öffentlich zugänglich ist der Archivbestand bis in die Amtszeit von Pius XII. (1939-1958). Dessen Pontifikat gab Papst Franziskus am 2. März 2020 frei, nachdem die Archivmitarbeiter das Material einigermaßen katalogisiert und teils digitalisiert hatten. Aus dem langem Pontifikat von Pius gibt es auch im Sant'Ufficio sehr viele Dokumente, wie Cifres verriet. Die diplomatisch Spannenden jedoch - zum Zweiten Weltkrieg und Holocaust, aber auch aus den Jahren des Kalten Kriegs und der Unabhängigkeitskriege europäischer Kolonien - liegen in den Archiven des Staatssekretariats sowie dem Vatikanischen Apostolischen Archiv, einst Geheimarchiv genannt.

Da die Glaubenskongregation eher für Fragen der theologischen und moralischen Lehre zuständig ist, finden sich dort eher mögliche Antworten auf die Frage, ob der Papst Adolf Hitler eventuell habe exkommunizieren wollen. Oder welche Bücher mit faschistischem oder sozialistischen Gedankengut verboten wurden - oder warum nicht. So befasste sich ein Langzeitprojekt des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf mit der Erschließung und Digitalisierung des Index' der verbotenen Bücher.

Wichtige Quellen für das historische Wissen der Menschheit

Angesichts mutmaßlicher Sensationen warnt Historiker Wolf: Um valide Ergebnisse zu bekommen, müssten Bestände umfassend durchgearbeitet und genau analysiert werden. Was wird intern diskutiert? Wann weiß wer was? Wie werden Kardinäle und Päpste beraten? Wer wie eingeschaltet? Was passiert? "Alle Antworten auf solche Fragen müssen sauber miteinander verknüpft werden", so Wolf.

Die Archive des Vatikans zählen zu den wichtigsten Quellen für das historische Wissen der Menschheit. Das 1998 geöffnete Archiv des "Sant'Ufficio" birgt Kurioses, Kontroverses, Tragisches, Erhellendes und Hässliches. Sein Image hat sich nach Einschätzung des Archivleiters über die Jahrzehnte vom "absoluten Tabu" zu einer nüchternen Sicht gewandelt.

Inquisition

Der lateinische Begriff Inquisition steht für Befragung, Erforschung oder Verhör. Das Rechtsverfahren entstand im 13. Jahrhundert und wurde von der Kirche wie auch von Staaten angewandt. Es führte die Sicherung von Beweisen sowie die Vernehmung von Zeugen ein. Seine heute landläufige Bedeutung als kirchliche Inquisition erhielt es mit den Verfahren gegen Ketzer und Häretiker. Hintergrund war der sogenannte Albigenserkreuzzug (1209-1229) in Südfrankreich.

Kupferstich: Inquisition und Folter einer Hexe / © N.N. (KNA)
Kupferstich: Inquisition und Folter einer Hexe / © N.N. ( KNA )
Quelle:
KNA