Kirchliche Experten begleiten Suchtkranke

Der lebenslange Weg aus der Abhängigkeit

1,6 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig. Die Volksdroge ist immer verfügbar - wie jetzt bei den Silvesterpartys. Eine Freiburger Beratungsstelle und ein Betroffener berichten, wie lang der Weg aus der Sucht ist.

Autor/in:
Volker Hasenauer
Symbolbild: Alkoholsucht / © Only_NewPhoto (shutterstock)
Symbolbild: Alkoholsucht / © Only_NewPhoto ( shutterstock )

"Das Schwerste ist der Schritt durch die Tür zur Beratungsstelle. Sich einzugestehen: Ich bin suchtkrank und schaffe es alleine nicht weiter." Der Freiburger Georg R. (54) war alkoholkrank. Jahrelang lebte er in der Sucht und verdrängte alle Folgen. "Alkohol war immer verfügbar, billig und unheimlich akzeptiert." Bei der Bundeswehr, bei der Bandprobe oder bei seinen Jobs in der Gastronomie und als Aufbauhelfer bei Festivals.

Irgendwann begann das heimliche Trinken, weil er seine Sucht vor Freunden und Familie verstecken wollte. "Ich hatte eine eigene Logistik für meine verschiedenen Alkoholverstecke." Allein fand er keinen Ausweg. Erst nach einem schlimmen Radunfall und weil ihn seine Partnerin drängte, kam er zur Beratungsstelle des katholischen Fachverbands AGJ, einer von bundesweit rund 900 Erstanlaufstellen der Suchthilfe.

Renate von Lucadou, Suchtberaterin / © Volker Hasenauer (KNA)
Renate von Lucadou, Suchtberaterin / © Volker Hasenauer ( KNA )

Aus Langweile beim Heroin gelandet

Medial wird aktuell vor allem über Cannabis und Partydrogen diskutiert, dabei ist die Hälfte aller Suchtkranken alkoholsüchtig. Psychotherapeutin und Suchtberaterin Renate von Lucadou berichtet allerdings auch von neuen Entwicklungen: "Seit der Corona-Zeit mit Lockdowns und den Einschränkungen des öffentlichen Lebens hat die Zahl der Opioid-Abhängigen in meinen Beratungen zugenommen. Zuletzt kam zum Beispiel ein junger Mann, der sagte, er sei aus Langeweile im Lockdown beim Heroin gelandet."

Die Expertin ist sicher, dass nur eine Minderheit aller Suchtkranken Hilfe durch eine Beratung sucht. "Auch deshalb versuchen wir verschiedene Zugangswege, die so einfach und niederschwellig wie möglich sein sollen." So bietet die Beratungsstelle in einem schönen Altbau am Dreisam-Ufer nahe der Innenstadt jeden Tag eine offene Sprechstunde an. Wer Hilfe sucht, wird von einem oder einer der sieben Beraterinnen und Berater begleitet. Meistens für etwa fünf Termine, bevor dann klar ist, wie die weitere Therapie aussehen kann.

Die schwieriste Phase

Schon die Dauer der stationären Entgiftung und Entwöhnung zeigt, wie schwer es ist, von der Sucht loszukommen: Bei Alkohol dauert die Reha meist vier Monate, bei illegalen Drogen sogar sechs. "Vielfach kommt nach der Therapie die schwierigste Phase: die Rückkehr in den Alltag", sagte Beratungsstellenleiter Andreas Abler.

Aber auch hier gibt es Angebote für Begleitung und Beratung. Georg R. nahm für eineinhalb Jahre an wöchentlichen Gruppentreffen und Einzelgesprächen teil. "Anders als bei vielen Leistungen im Gesundheitssystem ist bei Suchthilfe und Therapie die Finanzierung und Bewilligung zum Glück kein Problem", berichtet der 54-Jährige.

Telefonseelsorge

Die Telefonseelsorge ist unter den Nummern 0800/1110111 und 0800/1110222 rund um die Uhr kostenfrei und anonym erreichbar. Unter dem Motto "Sorgen kann man teilen" werden hier jährlich rund 1,8 Millionen Gespräche geführt. An 105 Stellen bundesweit stehen etwa 7.500 geschulte, ehrenamtliche Mitarbeiter mit vielseitigen Lebens- und Berufskompetenzen Ratsuchenden zur Seite. Sie unterliegen einer Schweigepflicht.

Mehr Beratungen durch die Telefonseelsorge, vor allem per Chat / © Mabeline72 (shutterstock)
Mehr Beratungen durch die Telefonseelsorge, vor allem per Chat / © Mabeline72 ( shutterstock )

Sucht aus der Schmuddelecke rausholen

Allerdings schlagen jetzt die Suchtberatungsstellen in Baden-Württemberg Alarm und fordern mehr Geld von der Landesregierung. Andernfalls seien Standorte bedroht.

Wichtig ist für Betroffenen und Berater, das Thema Sucht aus der Schmuddelecke herauszuholen. "90 Prozent unserer Klienten sieht auf den ersten Blick niemand an, dass sie schwer suchtkrank sind. Als Klischee denken viele bei Sucht an den saufenden Wohnungslosen", sagt Berater Abler. Dabei ist Sucht auf keine soziale Schicht begrenzt. In den Gesprächsgruppen sitzen erfolgreiche Unternehmer neben Hausfrauen, Angestellten und Arbeitslosen.

Entspannt beim Thema Cannabis

Die aktuelle Debatte um die Freigabe von Cannabis sehen die Freiburger Berater entspannt. Die Fachwelt sei sich einig. Es gelte zwei Perspektiven zu vermitteln, sagt Lucadou. Einerseits führt das Verbot bei sehr vielen Konsumenten zu Kontakt zu anderen illegalen Drogen. Eben weil es keine legalen Bezugswege gibt und Dealer fast nie nur Cannabis im Angebot haben. Das könnte durch eine staatliche Abgabe anders sein.

Andererseits zeigt die medizinische Forschung, dass besonders junge Cannabiskonsumenten das Risiko von Hirnschädigungen tragen. Daher spricht sich der AGJ-Fachverband wie die meisten Experten für einen staatlich regulierten Cannabis-Verkauf ab 21 Jahren aus.

Wer nicht trinkt wird schief angesehen

Beim Thema Alkohol glaubt Georg R. indes nicht an einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. "Wie selbstverständlich der Konsum ist und wie wenig über die Gefahren geredet wird, das verblüfft und ärgert mich immer wieder." Niemand werde auf dem Weihnachtsmarkt schief angeschaut, wenn er Glühwein trinkt. "Nur, wenn ich keinen trinke, gibt es Blicke." R. spricht sich daher für mehr Prävention aus, etwa in Schulen. Und macht derzeit selbst eine Fortbildung, um Suchtkranken zu helfen.

Das Konzept eines kontrollierten Konsums, wonach Süchtige nicht völlig ohne Alkohol auskommen müssen, sondern maßvoll trinken, hält Beraterin Lucadou für eine Selbsttäuschung. "Ich kenne aus meinen 15 Jahren Beratung niemanden, bei dem das funktioniert hätte", sagt Lucadou. Sie erzählt von einer Klientin, die 18 Jahre nichts trank, aber nach einem Glas Sekt innerhalb von zwei Wochen wieder so viel konsumierte wie zum Höhepunkt ihrer Sucht.

Sucht an Kinder vererben

Noch ein Thema treibt die Berater um: Sucht wird oft an die Kinder weitergeben. Mit eigenen Angeboten wie Kinder- und Jugendgruppen versuchen die Experten seit Jahren präventiv gegenzusteuern.

Auch Georg R.'s Vater war Alkoholiker. "Und jetzt denke ich mit Sorge an meine 14-jährige Tochter, was ich ihr vorgelebt habe. Mit ihr über die Sucht und meinen Kampf dagegen zu sprechen - das ist verdammt schwer."

Zahl der Drogentoten auf Höchststand seit 20 Jahren

Die Zahl der Drogentoten ist weiter gestiegen. Im vergangenen Jahr starben nach Angaben des Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert, 1990 Menschen an den Folgen des Missbrauchs illegaler Drogen. Das waren 164 mehr als im Jahr davor. Der SPD-Politiker nannte die Zahlen "schockierend und alarmierend". "Sucht ist eine Krankheit, kein Stigma. Suchtkranke Menschen dürfen nicht länger ausgegrenzt werden. Deshalb müssen wir über Drogenkonsum, über eine bessere Suchthilfe und mehr Prävention sprechen", sagte Blienert.

Symbolbild Drogen / © monticello (shutterstock)
Quelle:
KNA