"Wehret den Anfängen!" Kein Geringerer als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte dies gleich mehrfach am 28. Januar 2021 in einem ZDF-Interview. An jenem Tag war das Urteil im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gefallen.
Einen Tag zuvor hatte die Nation am 27. Januar der Schoah gedacht. Schäuble betonte, der Holocaust-Gedenktag "mahnt uns doch, dass wir aus der Geschichte lernen können, eben den Anfängen zu wehren und die Gefahr ist groß genug". Dies gelte, wo Hass und Hetze gegen Minderheiten geschürt würden.
Sind das noch Anfänge?
Doch kann man 2021 - nach den rassistisch motivierten NSU-Morden, nach dem Mord am CDU-Politiker Lübcke, nach den Morden von Halle und nach der Ermordung von neun Menschen mit ausländischen Wurzeln in Hanau noch von "Anfängen" sprechen?
Hessens Landtagspräsident Boris Rhein sagt: Nein. "Wer jetzt ruft: 'Wehret den Anfängen!', der meint es sicherlich gut, hat aber offenbar nicht verstanden, dass wir mittendrin sind!" Bei einem Gedenken des Landtags für die Hanauer Anschlagsopfer Anfang Februar sagte Rhein: "Wäre der Anfang abgewehrt worden, wären wir nicht da, wo wir sind."
Gedenkfeier in Hanau
Am 19. Februar 2020 hatte der 43-jährige Deutsche Tobias R. neun Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven erschossen. Ihre Namen lauten: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtovic, Vili-Viorel Paun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unver und Kaloyan Velkov.
In Erinnerung an jede und jeden der neun Ermordeten soll bei einer Gedenkfeier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitagabend eine frei stehende, beleuchtete Namenssäule auf der Bühne stehen. Bei der Gedenkfeier mit coronabedingt nur rund 50 geladenen Gästen im Congress Park Hanau sind auch persönliche Videoansprachen der Opferfamilien geplant. Sie fordern - auch ein Jahr nach der Tat - eine "lückenlose Aufklärung".
Zum Ende der Gedenkfeier sollen um 19.02 Uhr alle Glocken der Stadt läuten. So soll auch die Uhrzeit an das Datum des 19. Februar erinnern.
Hanau - eine Zäsur
Nach den neun Morden hatte der Todesschütze auch seine Mutter und sich selbst getötet. Die Bundesanwaltschaft attestierte dem Täter eine zutiefst rassistische Gesinnung. Mehrere Wochen vor dem Anschlag hatte er ein "Manifest" mit rassistischen und verschwörungsideologischen Inhalten auf seiner Website veröffentlicht.
Das Verbrechen von Hanau gilt als Zäsur. Es sei "die Eskalation rassistisch und rechtsextremistisch motivierter Anschläge in Deutschland in jüngster Zeit", sagte Rhein. Diese Morde hätten vielen die Augen geöffnet. "Wir erkennen, dass wir 76 Jahre nach der Schoah ein offensichtliches und bedrohliches Problem mit Rechtsextremismus und Rassismus haben. Hier - ausgerechnet in Deutschland."
Jeder einzelne Bürger werde sich am Ende fragen müssen: "Habe ich genug getan? Genug, um unsere Werte zu verteidigen? Genug für gegenseitigen Respekt und Anerkennung? Genug für die Menschlichkeit in unserem Land? Genug gegen geistige und tatsächliche Brandstiftung?"
Auch die Kirchen rufen zu Wachsamkeit auf
Ähnlich äußerte sich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU): "Die rassistischen Morde von Hanau verpflichten uns alle, mehr zu tun." Jede und jeder Einzelne sei gefragt, "klare Haltung zu zeigen und die Stimme gegen Hass und Gewalt zu erheben", sagte Widmann-Mauz den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Mittwoch).
Wachsamkeit mahnt auch Fuldas katholischer Bischof Michael Gerber an: "Wir müssen wach und aufmerksam bleiben und über alle Grenzen von Religionen und Weltanschauungen zusammen stehen", sagte er knapp ein Jahr nach den Morden bei einem Besuch der Gedenkstätte am Hanauer Heumarkt.
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung erklärte am Mittwoch, das Verbrechen habe gezeigt, dass rassistisch motivierter Terror "in der Mitte der Gesellschaft wächst". Es sei noch immer "schockierend, mit welch abgrundtiefer Menschenverachtung die Tat verbunden war".
"Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst"
Am ersten Jahrestag der Gräueltaten will die Stadt Hanau auf der Website www.hanau-steht-zusammen.de ein "Digitales Denkmal" eröffnen. "Zum Gedenken an die Opfer, die keine Fremden waren", so Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). "Und als Mahnung, dass so eine Tat nie wieder geschehen darf." Der in Hanau getötete Ferhat Unvar schrieb auch Gedichte. Eines vom 17. Oktober 2015 enthält die Zeile: "Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst."