"Das allerwichtigste in traumatisierenden Situationen ist, für die Menschen wieder Normalität herzustellen: Einen sicheren Raum zu schaffen und deutlich zu machen: Die Gefahr ist vorbei", erzählt Rainer Dürscheid. 21 Jahre war er Polizeiseelsorger im Auftrag des Erzbistums Köln und erster Ansprechpartner für die Polizistinnen und Polizisten und ihre Anliegen, egal es um Vorfälle bei Einsätzen ging, Konflikte im Team oder Trauerfälle in der Familie. Jetzt geht er in den Ruhestand und blickt auf ein abwechslungsreiches Berufsleben zurück.
Bis heute erinnert er sich an die Betreuung der Kölner Hundertschaft, die 2010 bei der Love Parade in Duisburg im Einsatz war. Damals kamen 21 Menschen ums Leben, über 600 wurden schwer verletzt. "Das waren die Kölner Kollegen, die selbst in diesen Tunnel geraten waren und Todesangst hatten. Eigentlich hatten sie die Aufgabe, Menschenleben zu retten und die Situation unter Kontrolle zu bringen. Und diese Ohnmachtserfahrung zu machen und Menschen sterben zu sehen: Das war schon heftig", erzählt er. Er und seine Kollegen aus dem Seelsorgeteam haben die Beamten und Beamtinnen damals über Wochen betreut und begleitet.
Es geht auch um ethische Fragen
Auch der Tod eines Polizisten beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 ist ihm bis heute präsent: Damals verunglückte ein 27-jähriger Polizeiobermeister: Als er aus einem Transporter fiel, schlug er auf die Straße und erlag drei Tage später in einem Krankenhaus seinen schweren Kopfverletzungen. "Wir haben die Kollegen betreut", erinnert sich Dürscheid, "aber auch die Ehefrau und die Eltern, die wir, während er im Koma lag, auf das Sterben vorbereitet haben. Inklusive der Frage, ob eine Organspende infrage kommt. Da geht es um ethische Fragen, Trauer und Trauerbewältigung."
Ihn selbst haben diese Themen nie persönlich belastet: "Man lernt schnell eine professionelle Distanz", sagt Dürscheid. Zudem sei er bei den Ereignissen nie dabei, sondern immer nur mittelbar durch die Gespräche mit den Betroffenen beteiligt gewesen. Als Pastoralreferent und Seelsorger im Erzbistum Köln wurde er auf solche Situationen vorbereitet. Polizeiseelsorger werden zudem für die Betreuung nach belastenden Einsätzen und in der Traumabewältigung geschult. Er weiß auch: "Meist kommen Polizistinnen und Polizistinnen aus belastenden Ereignissen unbeschadet heraus. Aber es gibt auch Fälle, wo therapeutische Unterstützung nötig ist, da sind wir mit unserem Latein am Ende."
Unerträgliche Bilder
Das gilt auch für die Ermittelnden in den großen Missbrauchskomplexen: Seit Jahren sichtet die Kölner Polizei sichergestelltes Material mit kinderpornografischen Inhalten und Bildern von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Babys, um den Tätern auf die Spur zu kommen. "Da kommen einige an ihre Grenzen, weil sie das nicht mehr ertragen", erzählt der langjährige Polizeiseelsorger. "Einige haben sich erst die Audioaufnahmen angehört und dann das Video angeschaut, weil beides zusammen zu viel war." Es gebe aber auch Beamte, die das "gerne" machten: "So komisch sich das anhört", sagt er: "aber sie sind sich bewusst, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und Verurteilung von Verbrechern leisten. Und dass sie dafür sorgen, dass Kindern nicht weiter Gewalt angetan wird. Das führt auch zu großer Motivation."
Doch manchmal war auch Rainer Dürscheid fassungslos, in welche menschlichen Abgründe er schauen musste: Dazu zählt die zunehmende Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten. Beleidigungen und Pöbeleien habe es schon immer gegeben, sagt er, aber die tätlichen Übergriffe seien deutlich mehr geworden: Über 40.000 Gewalttaten waren es laut Bundeskriminalamt allein im vergangenen Jahr. Dürscheid erzählt von Autobahnpolizisten, die nach Unfällen Sichtwände aufbauen, damit Leute die Opfer nicht mit ihren Handys filmen und dafür angegangen werden. Und: "Sie werden bei allem, was sie tun gefilmt oder fotografiert und die Bilder werden ins Netz gestellt. Das ist auch ein enormer Druck."
Seelsorge wird wertgeschätzt
Vorbehalte gegen ihn als Kirchenmann habe es nie gegeben, gegen die Institution sehr wohl, sagt Dürscheid: "Es gibt viele Polizisten und Polizistinnen, die deutlich sagen, dass sie sich in dieser Kirche nicht mehr zu Hause fühlen. Aber sie schätzen, wie Seelsorge sie wahr- und ernst nimmt und ich habe großes Vertrauen erlebt." Das habe auch viel mit dem persönlichen Kontakt zu tun. "Sie verbinden mit dem Seelsorger und der Kirche einen Schutzraum: Es gibt das Seelsorgegeheimnis, die Schweigepflicht und das Zeugnisverweigerungsrecht." Selbst wenn man ihm im Gespräch strafrechtlich relevante Dinge anvertraut hat: Dürscheid durfte sie nicht weitergeben.
Und noch eine Erfahrung hat er gemacht: Polizistinnen und Polizisten gehen heute viel selbstverständlicher auf Seelsorger zu als noch vor 20 Jahren. "Damals herrschte das Bild von Polizisten vor, die stark sind und keine Hilfe brauchen. Dieses Bewusstsein hat sich geändert: Es ist eher ein Zeichen von Stärke, dass man sich Hilfe holt, wenn man an Grenzen gerät."
Nach 21 Dienstjahren geht Rainer Dürscheid jetzt mit einem lachenden und einem weinenden Auge in den Ruhestand: Ein wenig wehmütig sei er schon gewesen, als er am vergangenen Freitag offiziell von der Kölner Polizei, NRW-Innenminister Herbert Reul und dem Kölner Generalvikar Guido Assmann verabschiedet wurde. "Ich schaue zurück auf viele Begegnungen, das wird mir fehlen", sagt er. Aber er freut sich auch darauf, mehr Zeit für seine Frau, seine Enkel und sein Motorrad zu haben. "Ich kann jetzt meine Zeit freier gestalten. Das ist eine schöne Perspektive, aber ich werde immer mit guten Erinnerungen an die Polizeiseelsorge zurückdenken!"