DOMRADIO.DE: Frau Jentsch, für Ihre Rolle der Sophie Scholl in dem Kinofilm "Die letzten Tage" aus dem Jahr 2005 haben Sie den Silbernen Bären bekommen. Nun lesen Sie in der Kölner Minoritenkirche Briefe der nur 22 Jahre alt gewordenen Cato Bontjes van Beek, die ein ähnliches Schicksal teilt. Wie Sophie Scholl stellte sich Cato gegen die Tyrannei der Nationalsozialisten und zahlte einen hohen Preis dafür: Am 5. August 1943 wurde sie als Widerstandskämpferin in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Wie würden Sie Cato Bontjes van Beek beschreiben?
Julia Jentsch (Film- und Fernsehschauspielerin): Cato war ein Mensch mit einem großen Herzen. Sie war lebensfroh, mutig, neugierig. Sie interessierte sich für Literatur, Sprache und Philosophie. Und sie liebte das Fliegen. Cato wuchs in einer Künstlerfamilie mit ihrer Schwester Mietje und ihrem Bruder Tim in dem kleinen Ort Fischerhude nahe Bremen auf. Ich glaube, es war ein sehr inspirierendes Umfeld. So schrieb sie leidenschaftlich gerne Briefe, von denen zum Glück viele erhalten sind, so dass es einen Fundus an Originaltexten von ihr gibt, die Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit und ihr Wesen zulassen. Es sind Briefe, die Catos Lebensfreude, ihre Liebe zu den Menschen, zur Natur und Literatur ebenso widerspiegeln wie ihre Gedanken und Gefühle während ihrer zehnmonatigen Haft.
DOMRADIO.DE: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie zum ersten Mail diese Briefe in den Händen hielten?
Jentsch: Zunächst dachte ich, da ich mich schon einmal sehr intensiv mit einer Widerstandskämpferin beschäftigt hatte, das "Thema" ist für mich als Schauspielerin sozusagen "besetzt" und in einer gewissen Weise auch abgeschlossen. Aber diese Briefe waren und sind für mich so eindringlich, so lebendig, so reich an bewegenden Gedanken und Gefühlen, dass mir sofort klar war, auch von dieser jungen Frau muss man den Menschen heute erzählen und unbedingt nachfolgenden Generationen ihre Gedanken erhalten.
"Leben will ich, leben, leben!" – mit diesem eindringlichen Zitat aus einem ihrer Briefe ist nicht umsonst diese Konzertlesung überschrieben, die der Komponist Helge Burggrabe konzipiert hat. Wie Cato kommt er aus Fischerhude. Er vertonte für die Text-Musik-Collage diesen dramatischen Ruf nach Leben und auch andere Texte, die Cato viel bedeuteten. Zudem verknüpfte er diese mit den Briefauszügen sowie einigen ihrer Lieblingsmusiken.
DOMRADIO.DE: Aus diesem Grund wird das Vokalensemble Sjaella aus Leipzig Musik von Bach bis zu Schlagern aus den 1930er Jahren wie dem jiddischen Lied "Bei Mir Bistu Shein" singen und eben auch Vertonungen von Helge Burggrabe wie "Leben will ich, leben, leben!"...
Jentsch: Ja, diese ausdrucksstarke Vokalmusik der sechs jungen Frauen von Sjaella ist sehr beeindruckend. Die Musik verstärkt in einmalig berührender Weise die Begegnung mit dieser besonderen jungen Frau Cato Bontjes van Beek.
DOMRADIO.DE: Catos Grab befindet sich auf dem Friedhof der Liebfrauenkirche in Fischerhude. Im Totenbuch der Kirche steht unter ihrem Namen das Zitat aus dem ersten Johannesbrief "Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die Liebe treibt die Furcht aus", das ebenfalls von Helge Burggrabe vertont wurde. Klingt dieses Johannes-Wort nicht wie ein Vermächtnis? Es könnte doch auch als aktuelle Mahnung in unserer heutigen Zeit verstanden werden...
Jentsch: Ja, das ist ein wichtiger Satz. Denn Cato ließ sich nicht von ihrer tiefen Menschlichkeit abbringen, bis zuletzt nicht. Kurz vor ihrer Hinrichtung sagte sie noch dem Gefängnisgeistlichen: "Ich habe mich mit allem ausgesöhnt. Ich habe keinen Hass und bin niemandem gram. Ich liebe die Menschen wie vorher…" Natürlich können wir das mit Blick auf heute auch als Ermutigung verstehen: Das Wichtige und zugleich Herausfordernde bei allen Verunsicherungen und Krisen der Zeit ist es doch, in der Liebe zu bleiben, und nicht die Furcht, sondern die Liebe zu nähren.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.