DOMRADIO.DE: Es heißt, Chemnitz sei weder schön noch besonders reich an Kultur. Stimmen Sie dem zu?
Dr. Ulrike Lynn (Mitglied im Vorbereitungsteam der Kulturkirche 2025 und Beauftragte der Katholischen Kirche für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025): Es ist eine Frage der Perspektive. Chemnitz hat keinen besonders guten Ruf, das muss man sagen und ist jetzt auch von der Architektur her nicht besonders schön. Das war gerade einer der Gründe, warum Chemnitz den Zuschlag zur Kulturhauptstadt bekommen hat. Denn Chemnitz hat unglaublich viel Potenzial.
So eine europäische Kulturhauptstadt ist eine große Chance, daran zu wachsen und sich neu aufzustellen sowie eine neue Öffentlichkeitswirksamkeit und ein neues Selbstverständnis nach außen und nach innen zu gestalten. Diese Herausforderung haben wir angenommen und sind gut dabei, das Kulturhauptstadtmotto "C the Unseen", also "Siehe das Ungesehene" hier umzusetzen. Chemnitz, die ungesehene Stadt im Reigen sächsischer Großstädte und all die ungesehenen Möglichkeiten, Menschen und Chancen, die eben in dieser Stadt stecken.
DOMRADIO.DE: Sie haben ein umfangreiches Programm der Kulturkirche auf die Beine gestellt. Ist das als ein eigenes Programm neben dem übrigen Programm der Kulturhauptstadt zu verstehen?
Lynn: Die Kulturkirchen grenzen sich in gewisser Weise schon vom Kulturhauptstadtprogramm ab, aber nicht ausschließlich. Es gibt Kooperationsprogramme, die sehr eng mit der Kulturhauptstadt zusammenarbeiten, die auch im Kulturhauptstadtprogramm auftauchen. Dazu zählen die Bergpredigten beispielsweise, die Altarverhüllungen oder die Stadtbiografien. Dann gibt es weitere Projekte, die nur Partnerprojekte sind und von der Stadt mitgetragen und unterstützt werden.
Und es gibt Programmpunkte, die wir als Kulturkirche ganz allein auf die Beine stellen. Die Kulturkirche ist ein Verbund christlicher Gemeinschaften, die sich interreligiös und interkonfessionell zusammenschließen. Das verspricht eine unglaublich intensive und schöne ökumenische Zusammenarbeit, die jetzt schon seit einiger Zeit läuft und hoffentlich nicht nur während des Kulturhauptstadtjahres, sondern weit darüber hinaus geht. Da wächst ganz viel.
DOMRADIO.DE: Das Programm ist schon losgegangen, es beginnt nicht erst 2025, sondern Sie sind schon richtig dabei.
Lynn: Genau. Wir haben das Kulturhauptstadt Motto "C the Unseen" in die Adventszeit übertragen. Gerade das Erzgebirge, was hier zur Kulturhauptstadt-Region gehört, ist wie geschaffen dafür, die kulturellen Schätze ins Licht zu heben, wenn hier alles glitzert und funkelt. Die Adventszeit ist auch eine Zeit des Wartens und des Hoffens und eine Zeit, die uns daran erinnert, auf das Unsichtbare zu vertrauen.
Wir haben am ersten Advent mit dem neuen Kirchenjahr auch das Kulturhauptstadtjahr eingeläutet. Ganz groß, ganz ökumenisch, mit drei Bischöfen und einer großen Öffentlichkeitswahrnehmung. Das war ein sehr schöner Auftakt. Am dritten Advent spielen wir die Lieder im Advent hier aus der Kulturhauptstadt Chemnitz, aus dem Lokschuppen, dem Eisenbahnmuseum, das von der ARD übertragen wird. Auch das ist eine große Möglichkeit, hier ganz breit die Kulturhauptstadt ins Licht zu heben.
DOMRADIO.DE: Ein Musical und ein Gospelkonzert sind als Programmpunkte aufgefallen. Zwei Highlights?
Lynn: Zwei von vielen Highlights. Das Martin Luther King-Musical, was hier in der Stadthalle aufgeführt werden wird, ist ein schönes Beispiel dafür, dass wir Kulturhauptstadt so verstehen, dass alle Mitwirkende sind. Es ist so, dass man nicht einfach hingeht und eine Veranstaltung "konsumiert" und wieder nach Hause geht, sondern das Martin Luther King-Musical lädt dazu ein, dass alle Laien mitsingen können, die mitsingen wollen. Das Musical besteht hauptsächlich aus mitwirkenden Chören, Einzelpersonen und wird sozusagen von der Gesellschaft selber gestaltet.
Das ist ein sehr schönes Projekt, was zeigt, dass wir die Menschen mit in diesen Prozess hineinnehmen. Das C-Festival, die Jugendbegegnung oder das Gospelkonzert sind alles Highlights, die auf Aspekte des Miteinanders und der Gemeinschaft hinzielen.
DOMRADIO.DE: In der Bewerbung hatte Chemnitz versprochen, im Kulturhauptstadtprogramm auch die Ausschreitungen vom August 2018 aufzuarbeiten. Damals wurden Ausländer und andere durch die Straßen der Stadt gejagt. Kommt das auch in Ihrem Kirchenprogramm vor?
Lynn: In gewisser Weise ja. Chemnitz ist sehr von Brüchen gezeichnet. Da ist das Stadtfest 2018 nur ein großer Bruch von vielen Wunden und Narben, die diese Stadt trägt. Wir haben viele Versöhnungsinitiativen ins Leben gerufen, die sich mit diesen Brüchen beschäftigen und versuchen, eine Heilung stattfinden zu lassen. Eine Versöhnung, wie sie dem christlichen Auftrag entspricht, sodass auch diese Wunden und diese Verletzungen aufgearbeitet werden können und dann hoffentlich heilen.
Das Interview führte Tobias Fricke.