DOMRADIO.DE: Es gab eine enorm hohe Wahlbeteiligung in Sachsen und Thüringen. Ein Grund zur Freude?
Friedrich Kramer (Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland): Ja, es ist immer ein Grund zur Freude, wenn sich Leute engagieren. Und ich glaube, immer mehr Leute merken, sie können es nicht einfach geschehen lassen, sondern müssen zur Wahl gehen, müssen sich beteiligen.
Das hat zwei Auswirkungen: Es werden auch mehr Stimmen für die AfD abgegeben, aber es werden auch viel mehr Stimmen für andere abgegeben und ich glaube, das ist in jedem Fall ein Grund zur Freude.
DOMRADIO.DE: Es galt lange, dass Menschen die AfD eher aus Protest gewählt haben, weil alles, was die so genannten Volksparteien so machen, ihnen nicht gefällt. Mittlerweile sagt man, dass der AfD auch Problemlösungskompetenzen zugeschrieben würden. Was denken Sie dazu?
Kramer: Es ist deutlich, dass ein Großteil der AfD-Wähler eine gefestigte Position dazu haben. Das hat auch noch ein Protestwähler-Potenzial, wird aber weniger. Das wurde schon bei den letzten Wahlen deutlich. Die AfD ist sehr umtriebig, auch in ländlichen Räumen, hat seit Jahren versucht, kommunal und an anderen Stellen "als Kümmerer" aufzutreten, mit den Leuten zu reden.
Sie schaffen es, Narrative wie dieses zu entwickeln: Die Feststellung, dass die AfD eine gesichert rechtsextreme Partei ist, unterläuft die Partei mit dem Argument, dass der Verfassungsschutz in Thüringen "ja eine von den Regierungsparteien gelenkte Einrichtung" sei, und damit könne man "wie damals der Stasi" dem auch nicht vertrauen. Das sind die Meta-Narrative, die sehr einsickern und die eine massive Ausbreitung und Zustimmung generieren.
Es gibt auch Leute, die rein monothematisch die AfD gewählt haben, weil sie sagen, dass jemand die Meinung vertritt, die ich auch habe.
DOMRADIO.DE: Hat denn in Ihren Augen kirchlicherseits genug im Vorfeld stattgefunden, wo Kirche zwar keine Wahlempfehlung ausgibt, sich aber positioniert?
Kramer: Wir haben, wie unsere katholischen Geschwister auch, als Kirche erklärt, dass die AfD ein Menschenbild vertritt, das mit ihrer rassistischen und nationalistischen Position wegen nicht mit einem christlichen Menschenbild vereinbar ist. Wir waren da sehr deutlich.
Wir haben auch ein großes Bündnis "Weltoffenes Thüringen" mit gebildet. Wir sind einer der aktivsten Kräfte, haben viele Podiumsdiskussionen mit und ohne AfD-Abgeordneten in den Landtagen in Gang gesetzt.
Wir haben da ziemlich viel getan und gleichzeitig müssen wir konstatieren, dass das Ergebnis ist, wie es ist. Das drückt ja auch was aus. Damit müssen wir uns jetzt beschäftigen.
DOMRADIO.DE: Sie sind im Osten von Deutschland geboren. Was denken Sie, wenn Menschen sagen, der Osten sei eher für solch rechte Botschaften empfänglich?
Kramer: Na ja, erst mal gibt es hier viele Menschen auch aus anderen Teilen der Republik, die inzwischen hierher gezogen sind. Ich bin skeptisch bei Bezeichnungen "Ost-West" und diesen ganzen alten Bildern. Es ist ja eher, wenn man es sich europäisch und weltweit anguckt, ein Wunder, dass die alte Bundesrepublik noch Parteien hat, die 150 Jahre alt sind. Das gibt es ja sonst kaum noch irgendwo.
Das heißt, der Vormarsch der Populisten oder auch populistischer Positionen ist ja in jeder Couleur überall zu sehen. Ich glaube, wir werden uns auch auf andere Formen der Verständigung, des politischen Miteinanders, der Koalition in solchen Dingen einüben müssen. Die alten Gewissheiten zerbröseln. Das gilt für die ganze Republik. Der Osten ist da eher im Mainstream Europas, und der Westen ist eigenwillig. Aber ich finde das gut.
DOMRADIO.DE: Muss man denn befürchten, dass man solche Ergebnisse im Westen bald auch zu sehen bekommt?
Kramer: Wenn Sie sich die Hessenwahl angucken, waren da ja auch zweistellig hohe AfD-Ergebnisse zu verzeichnen. Ich glaube, dass es eine Frage ist, wie es gelingt, "Repräsentations-Lücken" zu schließen und wie es gelingt, Leute vor Ort zu erreichen.
Wir haben es nicht nur in den Kommunalwahlen gesehen. Dort, wo vernünftige Leute eintreten und sich Bündnisse bilden, da ist alles möglich. Und da, wo Menschen das Gefühl haben, dass sie abgehängt sind, wird aus dem Frust der Menschen Honig gesaugt. Die AfD vermittelt eben auch, dass sie sich kümmert.
DOMRADIO.DE: Um Bündnisse geht es auch in Thüringen und Sachsen. Sprechen wir mal über das Bündnis Sahra Wagenknecht, das ebenfalls enorm stark ist. Aus dem Stand hat die Partei in Thüringen 15,8 und in Sachsen 11,8 Prozent erreicht. Macht Ihnen das als Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland eigentlich Sorgen?
Kramer: Na ja, das ist ja ein bisschen paradox. Ich als Friedensbeauftragter selber vertrete eine Position, die auch sehr kritisch zu Waffenlieferungen ist. Im Rat und auch in der Synode der EKD gibt es da sehr große Stimmenvielfalt. Im protestantischen Bereich sind wir da mehrstimmig unterwegs, also keineswegs einstimmig. Insofern macht mir das keine Sorgen.
Man sollte auch in der Beurteilung bei allem, was es an anderen thematischen Fragestellungen gibt oder wie aufgetreten wird oder wie das zentralistisch organisiert wird, immer überlegen, dass im Osten eine hohe Zustimmung dafür da ist, dass es keinen Sinn macht, die Ukraine mit Waffen zu beliefern und dass es keinen Sinn macht, davon auszugehen, dass man Russland schlagen kann. Da gibt es irgendwie etwas, was doppelt merkwürdig ist, weil das ja auch ein von russischer Armee besetztes Gebiet war.
Ich glaube, dass diese Fragestellung zum Frieden zwischen Russland und der Ukraine beziehungsweise zu den Waffenlieferungen für die Wahlentscheidung nicht weniger im Osten eine Rolle gespielt hat. Auch wenn dies nicht im Thüringer Landtag entschieden wird, wie jeder weiß.
DOMRADIO.DE: Was denken Sie, was nach den Wahlen für die Kirchen in Sachsen und in Thüringen vorrangig zu tun ist?
Kramer: Wir müssen das weiter verstärken und voranbringen, was wir schon gemacht haben: Gesprächsräume öffnen. Wir haben da ein schönes Projekt #verstaendigungsorte. Dabei geht es darum, Orte zu finden, wo man mit diametral unterschiedlichen Meinungen ins Gespräch kommt. Und das methodisch so, dass wirklich jeder zu Wort kommt, dass es kein Niedergebrülle und keine Beschimpfungen gibt, sondern dass man versucht, wieder Gesprächsfäden aufzunehmen.
Wir sind in der ganzen Republik dabei, Gesprächskultur zu verlernen. Die gilt es einzuüben und damit auch einfach sich zuzuhören, sich zuzumuten und gleichzeitig nicht in völlig getrennten Wirklichkeitsräumen unterwegs zu sein, was ja an vielen Stellen jetzt der Fall ist.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.