DOMRADIO.DE: Wie viel bekommen Sie vor Ort von dem Krieg mit und wie sehr schränkt das Ihren Alltag und den Ihrer Mitarbeitenden ein?
Georg Röwekamp (Leiter des Pilgerhauses Tabgha): Das hängt sehr von bestimmten Phasen ab. In den ersten Wochen und Monaten des Krieges war die Situation im Norden noch deutlich ruhiger. In den letzten Wochen hat der Beschuss aus dem Libanon deutlich zugenommen und das hat dann auch massiven Einfluss auf unser Leben am See Genezareth. Man lebt immer in Anspannung und auch wenn wir kein direktes Ziel sind, haben wir immer die Sorge, dass sich Raketen in unsere Gegend verirren. Das sorgt für eine nervliche Anspannung.
Umso mehr gilt das für Mitarbeitende, die sehr nahe, teilweise nur drei oder vier Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt wohnen und die in der Nacht immer wieder in den Bunker müssen, die Kinder haben, die traumatisiert sind, die eigentlich am liebsten nur noch im Bunker schlafen wollen, weil sie Angst haben.
Es hat eben auch in Galiläa Opfer gegeben. Es ist also kein Hirngespinst, dass was passieren kann. Es gibt Tage, an denen wir sehr viel mitbekommen, an denen wir am Himmel sehen, wie Raketen abgeschossen werden, und dann gibt es wieder Tage und Stunden, in denen alles unglaublich friedlich wirkt und man denken könnte, es sei alles in bester Ordnung.
DOMRADIO.DE: Der Deutsche Verein vom Heiligen Lande engagiert sich seit mehr als 160 Jahren vor Ort und ist in Israel zentrale Anlaufstelle für christliche Pilgerinnen und Pilger. Das Auswärtige Amt warnt jetzt vor Reisen nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Kommen überhaupt noch Gäste ins Heilige Land?
Röwekamp: Seit es diese Reisewarnung gibt, also seit gut einem Jahr, sind organisierte Pilgerreisen aus Deutschland nicht mehr möglich. Es gibt durchaus noch Gruppen, die durchs Land reisen. Die Brotvermehrungskirche in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ist weiterhin geöffnet und ab und zu kommen dort Pilgergruppen hin, zum Beispiel aus Indonesien.
Wir hatten nur sehr wenige Gäste, die trotz der Reisewarnung gekommen sind. Einzelne Gruppen oder Solidaritätsreisen, anfänglich auch noch einheimische Touristinnen und Touristen, die im Norden Entspannung gesucht haben. In den letzten Wochen, konnten wir die Verantwortung für die Gäste aber nicht mehr übernehmen, deswegen ist es seit Anfang Oktober vorübergehend geschlossen. Deswegen bin ich auch im Moment hier.
DOMRADIO.DE: Welche wirtschaftlichen Folgen hat das für das Pilgerhaus und für diejenigen, die vom Tourismus leben?
Röwekamp: Die Folgen sind erheblich. Seit einem Monat gibt es fast keine Einnahmen mehr in unserem Haus, wir wollen aber trotzdem so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie möglich halten, die auf ihre Gehälter angewiesen sind. Anders als in den palästinensischen Gebieten gibt es zwar bei uns eine Arbeitslosenversicherung, aber die deckt eben auch nur einen Teil ab.
Junge Menschen, bis 27, haben einen Anspruch von 90 Tagen. Deswegen versuchen wir vor allem den Familienvätern, die bei uns arbeiten, eine Perspektive zu geben. Aber da sind unsere Mittel begrenzt. Seit der Coronazeit sind unsere Rücklagen nicht mehr so, wie sie mal waren. Von daher sind wir auch sehr bald auf Unterstützung aus Deutschland angewiesen.
DOMRADIO.DE: Viele Israelis, gerade aus dem Nordwesten und aus der Region rund um Gaza, mussten weg von da. Nehmen sie diese Binnenvertriebenen bei sich auf?
Röwekamp: Wir haben das am Anfang geprüft, aber festgestellt, dass der Vertrag, den man dafür mit der israelischen Regierung schließen muss, auch vorsieht, dass koscheres Essen angeboten wird, was unsere Küche nicht tut. Wir haben darauf Kontakt zu arabischen christlichen Dörfern, nahe der Grenze, aufgenommen und gesagt: 'Sobald ihr einen Evakuierungsbeschluss bekommt, seid ihr bei uns herzlich willkommen.'
Viele von denen wollen aber nicht weg, selbst wenn sie könnten. Teilweise haben sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht. Dörfer, die sie einmal verlassen haben, konnten sie dann nie wieder besiedeln. Und wir haben auch Kontakt aufgenommen zur philippinischen Botschaft, die sich um viele christliche Migranten kümmert. Auch die würden wir aufnehmen, wenn es nötig ist. Bisher ist es dazu aber nicht gekommen.
DOMRADIO.DE: Weder die Hamas noch Israels Präsident Netanjahu oder die Hisbollah scheinen derzeit zum Einlenken bereit zu sein. Zusätzlich droht auch der Konflikt mit dem Iran zu eskalieren. Woher nehmen Sie denn persönlich die Hoffnung auf eine Waffenruhe?
Röwekamp: Es gibt in den letzten Tagen ganz leise Anzeichen, dass die Gespräche mit dem Libanon und mit der Hisbollah Fortschritte gemacht haben. Das wäre eine reale Hoffnung. Ben-Gurion hat mal gesagt: "Wer in diesem Land nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist." Irgendwann muss es zu Ende gehen, so glaube ich immer noch. Ob dann wirklich alle Konflikte gelöst sind, bezweifle ich sehr. Aber vielleicht wird irgendwann die Erschöpfung dazu führen, dass zumindest die Waffen erst einmal schweigen.
DOMRADIO.DE: Sie und Ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen könnten auch längerfristig nach Deutschland zurückkehren. Warum bleiben Sie in Israel?
Röwekamp: Mitarbeitende haben mich ermutigt wegzugehen. Sie sagen, dass wir das ja nicht tun müssen. Aber Israel ist seit einigen Jahren meine Heimat und auch die von meinen Kolleginnen und Kollegen. Wir möchten dort bleiben, solange es geht. Nicht nur in guten, auch in schlechten Zeiten.
DOMRADIO.DE: Die Region umfasst kulturhistorisch bedeutende Stätten aus der Entstehungszeit des Christentums und der jüdischen Geschichte. Darunter die antike Stadt Kafarnaum, in der auch Jesus zeitweise gelebt haben soll. Sind nicht auch diese vielen Kulturgüter in der Gefahr, von Raketen getroffen zu werden?
Röwekamp: Mir ist bisher nichts bekannt. Zumal sich die Angriffe meist auf militärische Ziele erstreckt haben. Vor allen Dingen ist das Ganze natürlich nicht zu vergleichen mit den Zerstörungen im Libanon und im Gazastreifen, was ja auch jeweils Kulturregionen sind. Die Gefahr, dass auch diese Kulturgüter von Raketen getroffen werden, besteht natürlich, aber ich möchte nicht vergessen, dass die Gefahren und die Nöte der Menschen in den Nachbarländern deutlich größer sind als bei uns.
DOMRADIO.DE: Auch für die Christen im Heiligen Land ist es schwierig. Es gibt die palästinensischen Christen und die, die in Israel leben. Welche Rolle spielen Sie in diesem aktuellen Krieg?
Röwekamp: Wenn ich nach der Situation der einheimischen Christen gefragt werde, frage ich gerne, über welche wir denn eigentlich sprechen? Die Christen bei uns im Norden? Die leiden unter den gleichen Dingen wie die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner. Viele von ihnen unterstützen den Krieg Israels im Libanon, weil sie vor der Hisbollah genauso Angst haben, wie die Juden in der Nähe des Gazastreifens vor der Hamas.
Umgekehrt hatte ich die Gelegenheit, vor gut einem Jahr in Gaza zu sein. Ich kenne die dortige kleine Christengemeinde, die unter schwierigsten Bedingungen ausharrt, unter denen es auch Opfer gegeben hat. Ich sehe Opfer auf beiden Seiten. Hier gibt es ganz unterschiedliche Lebensrealitäten, was auch dazu führt, dass sich die arabischen und einheimischen Christinnen und Christen nicht unbedingt einig sind, was die Bewertung der Lage angeht.
DOMRADIO.DE: 2015 verübte ein jüdischer Extremist einen Brandanschlag auf das deutsche Kloster Tabgha, und die Lage für die Christen verschlechterte sich dann immer weiter. Das beklagte kürzlich der Jerusalemer Benediktiner Abt Nikodemus Schnabel. Teilen Sie diesen Eindruck?
Röwekamp: Die Situation im Land wird dadurch, dass die Polarisierung in jeder Hinsicht größer wird, immer schwieriger. Die Folgen der gegenwärtigen Konflikte sind noch gar nicht abzusehen. Man muss hier mit Traumatisierungen und Retraumatisierungen umgehen. Die Versöhnung und das Annähern wird lange dauern, weil bestimmte Gruppen in Israel, die, die das Land nur für jüdische Israelis wollen, wieder stärker werden.
Es gibt immer wieder Spuckattacken und schärfere Formen von Angriffen auf Christinnen und Christen. Es gibt aber, auch das muss man sagen, gleichzeitig auch jüdische Gruppen, die sich dagegen wehren. Die Christinnen und Christen unterstützen, gerade auch in dieser jetzigen Zeit, in der das nicht einfacher geworden ist. Von daher stimmt es. Die Situation im Land wird schwieriger, aber nicht nur für die Christen.
Das Interview führte Dagmar Peters.