Liturgiewissenschaftler bewertet Woelkis Fehlen in Aachen

Eine Frage der Angemessenheit

Das Fehlen Kardinal Woelkis in Aachen wirft die Frage auf, ob kirchenpolitische Auseinandersetzungen ihren Platz in der Liturgie haben dürfen. Für Michel Steinmetz ist Instrumentalisierung keine Lösung. Dafür gebe es andere Orte.

Rainer Maria Kardinal Woelki / © Marius Becker (dpa)
Rainer Maria Kardinal Woelki / © Marius Becker ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wann kann es sinnvoll sein, dass ein bestimmter Priester oder Bischof die Leitung eines Gottesdienstes nicht übernimmt?

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz (Institut für Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg/Schweiz): Streng genommen hindert nichts einen gültig geweihten Priester oder Bischof daran, einer Feier vorzustehen, da die rechtlichen Bestimmungen, insbesondere in Fragen der Jurisdiktion, gewahrt bleiben. Jedoch – und Sie verwenden absichtlich den Begriff "sinnvoll" – kann es Fälle geben, in denen ein solcher Vorsitz nicht angebracht ist. Hier wären wir auf der Ebene der Angemessenheit, des pastoralen Sinns und damit auch des Unterscheidungsvermögens.

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz (privat)
Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz / ( privat )

Die liturgische Feier ist immer ein Akt, der die ganze Kirche verpflichtet und damit die sichtbare Manifestation ihrer Einheit in Christus. Von dem Moment an, in dem diese Einheit missbraucht zu werden scheint, kann man sich fragen, ob dieser Vorsteher angebracht erscheint.

Ich glaube, dass es ein solches gemeinsames Urteil des Bischofs von Aachen und des Erzbischofs von Köln war, das Kardinal Woelki dazu veranlasste, auf die Leitung der Eucharistie am Sonntag im Rahmen der Heiligtumsfahrt 2023 auf dem Katschhof zu verzichten. Man könnte sagen, dass es hier eine "vorsichtige" Entscheidung gab, da das Risiko bestand, dass die Feier gestört werden könnte oder – wie Bischof Dieser sagte – dass sie sogar nicht zu Ende geführt werden könnte.

DOMRADIO.DE: Kann oder darf Liturgie ein Schauplatz von politischen beziehungsweise kirchenpolitischen Auseinandersetzungen sein?

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz

"Niemals soll die Spaltung genährt werden. Das wäre eine Perversion."

Steinmetz: Wenn die Liturgie jeder menschlichen Notlage nicht fremd bleiben kann, weil die Kirche selbst es nicht kann, wie auch in Gaudium et Spes 1 deutlich wird, ist sie zuerst einmal der Ort der Fürbitte für diese Situationen des Leidens. Zweitens wird sie als Antwort auf die Kraft der Botschaft des Evangeliums in gewisser Weise auch zu einem "ethischen Protest".

Die Liturgie ist niemals ein in sich geschlossenes, hermetisch abgeriegeltes In-sich-selbst, eine Art Parallelwelt oder keimfreie Welt. Aber ist sie, obwohl es sich um einen öffentlichen Gottesdienst handelt, also in gewisser Weise auch um einen sozialen oder besser gesagt gesellschaftlichen Akt, nicht mit einer politischen Versammlung vergleichbar, bei der ein Tribun eine Bühne findet, um seine eigenen Ansichten zu verkünden und die Menge im Gegenzug den Redner bejubelt oder ausbuht.

Das ultimative Ziel der Liturgie ist es, die Gemeinschaft mit Christus und damit unter seinen Jüngern zu festigen. Niemals soll die Spaltung genährt werden. Das wäre eine Perversion.

DOMRADIO.DE: Insbesondere die Eucharistie wird als Sakrament der Einheit bezeichnet. In vielen kirchlichen Lehrfragen – z.B. Sexualmoral – gibt es aber Meinungsverschiedenheiten im Gottesvolk. Sollten man daher solche Themen in Gottesdiensten eher ausklammern oder bewusst einbinden?

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz

"Die liturgische Versammlung wäre vielleicht das Gegenmittel gegen Grabenkämpfe oder den Rückzug in sich selbst."

Steinmetz: Die Frage ist natürlich heikel. Sie haben vollkommen Recht, wenn Sie sagen, dass die Eucharistie als das Sakrament der Einheit angesehen wird. Sie ist immer noch ein Sakrament der Gemeinschaft. Nicht umsonst eröffnet das Vaterunser während der Eucharistie die Kommunionsriten und jeder ist aufgerufen, sich als Sohn und Tochter zu erkennen, indem er "Vater unser" und nicht "Mein Vater" sagt, wie der heilige Cyprian in seinem Kommentar zum Gebet des Herrn erinnert (vgl. die zweite Lesung in der Lesehore vom Dienstag der 11. Woche im Jahreskreis I; Anm. d. Red.).

Aus demselben Grund geht das Gebet um Einheit der Kommunion voraus: "Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden". Die gemeinsame Feier der Eucharistie ist nicht das Ergebnis eines Konsenses, nicht der Ausdruck einer Mehrheit und auch nicht die Verneinung unterschiedlicher Meinungen oder Empfindlichkeiten. Sie ist kein Waffenstillstand in einem Gebiet der Konfrontation. Sie ist vielmehr die Feier einer Einheit, die uns übersteigt, weil sie sich nicht auf uns, sondern auf Christus gründet.

Kommunion-Austeilung / © Harald Oppitz (KNA)
Kommunion-Austeilung / © Harald Oppitz ( KNA )

Indem ich das Brot der Eucharistie empfange, das heißt, mit ihm, dem Toten und Auferstandenen, kommuniziere, stimme ich auch – und das ist sogar arithmetisch – zu, mich meinen Schwestern und Brüdern im Glauben zu nähern. Die liturgische Versammlung wäre vielleicht das Gegenmittel gegen Grabenkämpfe oder den Rückzug in sich selbst. Christus geht uns unaufhörlich voraus und provoziert uns in gewisser Weise.

Was die bewusste Einbeziehung dieses oder jenes Punktes der Meinungsverschiedenheit in eine Feier angeht, so scheint mir, dass dies immer mit dem Ziel geschehen sollte, die Einheit zu bewahren. Wenn der Zweck nur darin besteht zu provozieren oder den eigenen Standpunkt durchzusetzen, würde die Liturgie in hohem Maße instrumentalisiert werden. Die Fürbitten hingegen könnten ein Ort sein, an dem diese Einheit im Gebet erbeten wird, selbst auf die Gefahr hin, die Stolpersteine zu formulieren und sie somit anzuerkennen. Wir sind in dieser Hinsicht eher zögerlich, dies zu tun.

DOMRADIO.DE: Liturgie wird sehr durch den Priester oder den Bischof geprägt. Er kann in der Predigt oder in sonstige Wortbeiträgen meist unwidersprochen theologisch oder politisch Position beziehen. Wo liegen hier die Grenzen auf seiner Seite?

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz

"Die Predigt muss sich wie ein Resonanzkörper für das Wort des Evangeliums entwickeln."

Steinmetz: Ich habe gerade die Fürbitten erwähnt. Ihre Frage lässt mich sofort an einen anderen Ort denken, an dem verschiedene Standpunkte zum Ausdruck gebracht werden könnten: die Predigt während der Eucharistiefeier. Hier geht es natürlich nicht darum, sie zur Tribüne eines Redners zu machen, der wie ein geschickter Politiker die Massen aufpeitschen und um seine Person scharen möchte. Die Predigt muss sich wie ein Resonanzkörper für das Wort des Evangeliums entwickeln. Und der Prediger darf nie vergessen, dass er sich selbst predigt! Nichts ist schlimmer als: "Tut, was ich sage, aber es ist nicht das, was ich selbst tue". In einem solchen Fall wäre es besser zu schweigen.

Im Gottesdienst im Allgemeinen und in der Predigt im Besonderen bin ich der Meinung, dass ein guter "Vorsitzender" oder "Prediger" sich wie ein "guter Hirte" verhält. Er macht sich zum Sprecher eines Wortes aus dem Evangelium, das oft provoziert und immer Fragen aufwirft. Anstatt seine eigenen Wahrheiten zu verkünden, lässt er dem Evangelium Raum, damit es widerhallt und sich einen Weg in die Herzen bahnt.

DOMRADIO.DE: Laien sind in der Liturgie den Wortbeiträgen des Klerus ausgesetzt. Wie sieht ein angemessenes Zeigen von Missbilligung aus? Verlassen des Gottesdienstes? Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung, zum Beispiel Umdrehen bei der Predigt wie die Ministranten im Falle Kardinal Woelkis in Rom? Hochhalten von Transparenten? Zwischenrufe?

Prof. Dr. Dr. Michel Steinmetz

"Wenn das gemeinsame Feiern nicht mehr möglich ist, wirft das eine grundlegende Frage auf."

Steinmetz: Allzu oft wird vergessen – vielleicht aber auch, weil die gemeinsame Erfahrung der Liturgie leider oft in diese Richtung geht –, dass die Liturgie nicht von Angesicht zu Angesicht stattfindet, was sie auch nicht sollte. Sie ist nicht ein Bischof oder ein Priester, der stummen Gläubigen gegenübersteht. Sie ist das Handeln des ganzen Volkes, und viele Amtsträger und Arten von Ämtern müssen ihren Platz darin finden. Der sensus fidei betrifft alle Getauften: Gläubige und geweihte Amtsträger. Alle sollen spüren, was für alle gut ist, für das ganze Volk Gottes.

Ich sage es noch einmal: Die Liturgie zu instrumentalisieren ist meiner Meinung nach keine Lösung. Aber wenn das gemeinsame Feiern nicht mehr möglich ist, wirft das eine grundlegende Frage auf, die nur durch den Dialog zwischen allen, die Unterscheidung zum Wohl des kirchlichen Körpers, gelöst werden kann. Gewiss, im Katholizismus wird der Amtsträger gesandt, aber er bittet auch darum, empfangen zu werden. Die beiden Bewegungen sind untrennbar miteinander verbunden.

Katschhof in Aachen / © Nicola Trenz (KNA)
Katschhof in Aachen / © Nicola Trenz ( KNA )

Wenn – wie es kürzlich der Fall war und am Sonntag in Aachen fast der Fall war – der "liturgische Ort" der einzig mögliche und sichtbare, weil zweifellos symbolische Ort bleibt, um eine Meinungsverschiedenheit zu äußern, stellt sich für mich die Frage nach dem Fehlen der anderen möglichen Orte des Dialogs in der Kirche und schließlich der Erfahrung echter Synodalität. Sollten wir nicht noch intensiver daran arbeiten, dass unsere Liturgien eine Manifestation des gesamten Volkes Gottes sind und nicht nur der einzige symbolische Ort des kirchlichen Lebens? Das würde bedeuten, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils treu zu bleiben, nicht mehr und nicht weniger.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Liturgie

Liturgie bezeichnet im Christentum und Judentum das Verständnis und die Ordnung der Zeremonien des Gottesdienstes. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt öffentlicher Dienst. Neben der Heiligen Messe gehören dazu beispielsweise Taufe, Trauung oder Bestattung. Die Formen, Regeln und Vorschriften der römischen Liturgie haben sich im Lauf der Jahrhunderte verändert; grundsätzlich legt der Papst sie fest. Dazu zählen etwa die Vorgabe bestimmter Gebete oder Regeln zum Ablauf des Gottesdienstes sowie Form und Farbe von Messgewändern.

Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz (KNA)
Hochgebet auf deutsch / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR