DOMRADIO.DE: Zum Beginn der letzten Phase der Weltsynode soll es nach dem Willen von Papst Franziskus einen öffentlichen Bußakt wegen Verfehlungen der Kirche geben, insbesondere im Umgang mit sexuellem Missbrauch. Was halten Sie von diesem Vorhaben?
Prof. Dr. Andreas Odenthal (Seminar für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Es ist grundsätzlich positiv zu würdigen, eine Synode mit einem Bußakt zu beginnen: Die Kirche und ihre Mitglieder bringen darin Schuld zum Ausdruck, persönliche wie auch strukturelle, bekennen sich als bekehrungs- und vergebungsbedürftig und bitten um die Gnade Gottes.
Dass dabei ausdrücklich die Verfehlungen bei sexualisierter Gewalt einbezogen werden, ist ebenfalls zu begrüßen. Wie schon seit der besonderen Karfreitagsfürbitte des Jahres 2010 ist damit zu beobachten, dass das Thema sexualisierter Gewalt auch im Gottesdienst der Kirche angekommen ist.
DOMRADIO.DE: Was beinhaltet so ein Bußakt nach liturgischen Gesichtspunkten?
Odenthal: Wie immer im katholischen Gottesdienst geht es auch beim Bußritus um ein Zusammenspiel von ritueller Geste und verkündigendem Wort, das zum Gebet wird.
Die Kirche hat in ihrer langen Tradition ein reiches Repertoire von Bußformen entwickelt: grundlegend natürlich die Sündenvergebung in der Taufe selbst; dann weitere Formen, von der sakramentalen Beichte mit Handauflegung bis hin zur Auflegung der Asche am Beginn der Österlichen Bußzeit; vom Schuldbekenntnis in der täglichen Komplet, in jeder Messfeier bis hin zum Weihwasserritus im Sonntäglichen Taufgedächtnis, der von Sünden reinigenden Charakter hat.
Diese Formen an sich sind gut und wertvoll. Doch dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Im Film "Die große Stille" sagt einer der Karthäuser: "Nicht die Zeichen stehen in Frage, sondern wir". Das heißt: Es kann nicht um die Bußriten "an sich" gehen, sondern um die Frage, ob sie authentisch sind und in den konkreten Beziehungskontext passen.
Das ist ein heikles Unterfangen: Liturgie muss zumindest teilweise gedeckt sein durch Beziehungsstrukturen und gelebte christliche Praxis. An diesem Punkt setzen die Fragen an.
DOMRADIO.DE: Kritiker solcher öffentlichen Bußakte sehen darin in erster Linie eine Symbolpolitik der Kirche, die sich sonst mit der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt schwer tue. Also Buße tun gleich Schwamm drüber?
Odenthal: Das sind notwendige Fragen und Anfragen, die sich mir als Liturgiewissenschaftler immer stellen. Zunächst: Wer plant den Gottesdienst? Wer wirkt aktiv dabei mit? Dann: Ist ein solcher Bußakt wirklich hilfreich und heilsam? Was soll er bewirken? Denn wenn schlimmstenfalls nur eine Beruhigung des kirchlichen schlechten Gewissens erfolgt, setzt sich in gewisser Weise der Missbrauch fort.
Hier zeigt sich: Auch die Liturgie kann man missbrauchen, um sich selber zu beruhigen und notwendige Veränderungen, etwa von Machtstrukturen, abzuwehren. Um Machtstrukturen geht es übrigens auch bei der Vorbereitung jedes Gottesdienstes.
Ich persönlich würde einen solchen Ritus nie ohne die Mitwirkung und Beteiligung von Betroffenen sexualisierter Gewalt planen. Denn um sie geht es und muss es in erster Linie gehen, nicht wieder nur um die Kirche und ihre eigene Schuld. Und hier ist vieles selbstkritisch und aufrichtig zu bedenken: Ist ein solches Ritual, sofern es – und mag es unbewusst geschehen – als Teil einer Abwehrstrategie begangen wird, nicht in seiner ursprünglich heilsamen Dimension gefährdet?
Des Weiteren darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Bitte an Gott um Vergebung zu einer impliziten moralischen Forderung auch an die Betroffenen werden kann. So finden diese sich schnell in der Rolle wieder, selber unbedingt vergeben zu sollen. Vergebung an dieser Stelle von oben einzufordern, wäre höchst fatal.
Also ist schon in der Vorbereitung vieles zu bedenken: wer bittet hier in welcher Rolle und in welcher Absicht um Vergebung und: wer übernimmt Verantwortung für die Schuld, persönlich wie auch institutionell? Ein solcher Bußritus darf nicht dazu führen, dass die Verantwortung für sexualisierte Gewalt auf alle Mitglieder der Kirche gleichermaßen verteilt wird.
DOMRADIO.DE: Der Bußakt zu Beginn der Synode soll nicht nur die Verfehlungen der Kirche beim Umgang mit sexualisierter Gewalt zum Inhalt haben. Es gehe zum Beispiel auch um das Versagen gegenüber Kriegsopfern sowie gegenüber Migranten und Flüchtlingen. Läuft so ein allgemeiner Bußakt daher nicht auch Gefahr, das Versagen der Kirche in den unterschiedlichen Bereichen zu relativieren?
Odenthal: Mit einem solchen Bußritus liegt zweifelsohne eine Schwerpunktsetzung vor. Würde dies als Relativierung verstanden, wäre das problematisch. Genau da liegt die Schwierigkeit: Ein Bußritus zu Beginn der Weltsynode, der das Versagen der Kirche in den Blick nimmt, hätte neben den genannten Punkten auch innerkirchliche Themen, gerade auch die konflikthaften, in den Blick zu nehmen.
Da wäre meines Erachtens dann auch die Grundentscheidung zu bedenken, dass ein in meinen Augen wichtiges Thema der kirchlichen Gegenwart, die Frauenfrage bis hin zur Partizipation an den Ämtern, auf der Synode wohl gar nicht diskutiert werden soll. Dabei geht es um die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Gottesdienstes, und das nicht nur aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive.
DOMRADIO.DE: Es hat immer wieder Bußliturgien in Bezug auf sexualisierte Gewalt gegeben. In Deutschland hat sich zum Beispiel 2010 der damalige Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode auf dem Boden ausgestreckt und um Vergebung gebeten. Bei ihrer Frühjahrsvollversammlung 2011 begannen die deutschen Bischöfe im Paderborner Dom das Pontifikalamt mit einem Bußgebet, bei dem sie sich hinknieten. Im November 2021 gab es im Kölner Dom einen Bußgottesdienst, bei dem auch Betroffene sexualisierter Gewalt zu Wort kamen. Was sind Ihrer Ansicht nach angemessene Formen, liturgisch mit diesem hochsensiblen Thema umzugehen?
Odenthal: Alle diese Formen sind grundsätzlich zu begrüßen, wenngleich ich persönlich nicht alle für gelungen halte. Da ist vieles zu lernen, und ich glaube, wir haben vieles gelernt in der Kirche.
Das sind für mich folgende Punkte: a. Es kann bei solchen Ritualen nicht ohne die Betroffenen gehen. b. Das Ritual nenne ich grundsätzlich heilsam, nicht heilend, denn es gibt Verwundungen, die nicht heilen können. c. Die Bitte an Gott um Vergebung darf nicht zu einer moralischen Aufforderung an die Betroffenen verkommen, selber zu vergeben, denn durch sexualisierte Gewalt wie auch durch geistlichen Machtmissbrauch zerstörte Beziehungen geben das in der Regel nicht her.
Vor diesem Hintergrund bin ich gespannt, welche Formen der Bußritus zu Beginn der Weltsynode annehmen wird. Es wird deutlich: Der Papst hat mit seinem Wunsch nach einem solchen Ritus, den ich nur begrüßen kann, ein heikles Fass aufgemacht. Ich wünsche unserer Kirche, dass ein glaubwürdiger und für die Betroffenen und viele andere heilsamer Ritus daraus hervorgeht, der nicht auf Kosten notwendiger Veränderungen unserer Kirche im Geiste Jesu geht.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.