"Wir Italiener müssen sehr hart gegen dieses Europa sein, weil es uns alleinlässt", sagte Scola im Interview der Tageszeitung "La Stampa" (Sonntag) und fügte hinzu: "Dies ist ein sehr schlimmes Symptom für die Zukunft des Kontinents, und ich hoffe nicht, dass es das Symptom einer tödlichen Krankheit ist."
Geschichte verlangt Handeln
Zur Frage nach einer Ablehnung der Migranten in der Bevölkerung sagte Scola, es gebe zu wenig Aufklärung und Information. Die Menschen würden "zur Beute von Instrumentalisierungen". Integration brauche Zeit und gemischte Reaktionen seien unausweichlich, aber er sehe "kein rassistisches Abdriften".
Die Welt stehe vor einer historischen Entwicklung, so der Kardinal unter Verweis auf Dutzende Millionen Migranten weltweit. "Die Geschichte fragt nicht um unsere Erlaubnis, um Entwicklungen in Gang zu bringen; aber sie verlangt unser Handeln, um ihnen eine Richtung zu geben", so der frühere Professor für Politische Philosophie und Moraltheologie.
Unmittelbare Hilfe notwendig
Die Antwort der Kirche auf die Flüchtlingskrise müsse in der unmittelbaren Aufnahme und Hilfe liegen. Die Aufgabe der Politik sei eine andere und bestehe in einer konzertierten Lösung des Problems in den Herkunfts- und Zielländern der Migranten, so Scola. Dabei verwies er auf den Marshall-Plan, ein milliardenschweres Hilfsprogramm der USA in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der aus Malgrate am Comer See stammende Scola steht dem Erzbistum Mailand seit 2011 vor; zuvor war er neun Jahre Patriarch von Venedig. Am Montag vollendet er sein 75. Lebensjahr und muss gemäß dem Kirchenrecht dem Papst seinen Amtsverzicht anbieten. In der Regel belässt dieser jedoch die Leiter wichtiger Diözesen noch eine Zeit lang im Amt.