DOMRADIO.DE: Fassen wir mal zusammen: 1,8 Billionen Euro, davon 1074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Corona-Krise. Was sagen Sie zu diesem Paket? Wird das reichen?
Prof. Dr. Peter Dabrock (Professor für Systematische Theologie, ehemaliges Mitglied der europäischen Ethikgruppe und ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats): Man hat am Ende einen ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite - Helmut Kohl hat das gesagt - ist am Ende entscheidend, was hinten rauskommt. Da ist tatsächlich dann doch wirklich historisch viel bewegt worden. Auf dem Weg dorthin ist es meines Erachtens schon zu ganz unschönen Szenen gekommen.
Man hatte kaum den Eindruck, dass es hier sehr vielen um eine europäische Idee, eine europäische Solidarität geht, sondern vor allen Dingen darum, nach Hause zu fahren und im eigenen Land dann zu sagen: "Das, was rausgekommen ist, ist im Wesentlichen auf mich zurückzuführen und ich war ganz erfolgreich." Und da glaube ich, wenn wir auf die Art und Weise Solidarität in Krisenzeiten leben wollen, haben wir ein Problem.
DOMRADIO.DE: Es hat ja auch öfter geknallt, unter anderem wegen der sogenannten "Sparsamem Vier": Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark. Sie wollten zusammen mit Finnland Kredite statt hoher Zuschüsse. Wurde da Solidarität bei den Verhandlungen auf einmal plötzlich ganz klein geschrieben? Kann man das so sagen?
Dabrock: Wenn man sich den Weg zum Ergebnis anschaut, dann sieht man: Es gibt nicht die Bösen, hier die "Sparsamen Vier", oder fünf waren es ja am Ende, und dort die Guten, ausnahmsweise angeführt von Frankreich und auch Deutschland, die sonst ja normalerweise zu den Sparsamen zählen, sondern auf allen Seiten gibt es Verfehlungen und Verdächtigungen. Verfehlungen in der Hinsicht, wenn man auf die "Sparsamen Vier" respektive Fünf blickt. Die haben das ja nicht getan, weil sie nur böse gegenüber den anderen sein wollen, sondern sie wollten vor allen Dingen eigene Rabatte herausholen.
Deutschland hat, ohne Gespräche mit eben diesen mittelgroßen Ländern zu führen, sich plötzlich ganz entgegen seiner üblichen Verhandlungstaktik auf die Seite Frankreichs geschlagen. Dann sieht man, dort werden Vertrauenspfade, die es bisher gibt, unterbrochen. Und man sieht, Solidarität hängt auch viel damit zusammen, dass man den anderen, auch wenn er vermeintlich der Schwächere ist, in seiner Rolle akzeptiert.
Das zeigt, trotz des immensen Aufwandes an Verhandlungen, der schon im Vorhinein geführt worden ist, dass die Vertrauensbasis so nicht gelegt worden ist. Das kombiniert sich dann mit diesen national-egoistischen Zielen. Da, glaube ich, zeigt sich, dass in der EU insgesamt doch ein ganz erheblicher Reformbedarf besteht und dass die Maschinerie Europa, so wie sie jetzt läuft, nicht mehr lange so laufen kann.
DOMRADIO.DE: Deutschland scheint ja auch ganz zufrieden aus diesen Verhandlungen rausgegangen zu sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat jetzt von einem Haushalt gesprochen, ausgerichtet auf die Zukunft Europas. Wird dieses Paket alle nun wieder stärker zusammenrücken lassen?
Dabrock: Das glaube ich nicht. Das glaube ich schon deswegen nicht, weil Europa sicher, das haben auch die letzten vier Tage wieder gezeigt, im Wesentlichen vor allem eine Finanztransfer-Solidaritäts- oder Nicht-Solidaritätsgemeinschaft ist. Aber die Rede darüber, was uns eigentlich in Europa zusammenhält, ist etwas, was wir viel stärker wieder in den Mittelpunkt bekommen müssen.
Das scheitert sicherlich auch unter Corona-Bedingungen erst recht daran, dass wir noch immer keine gesamteuropäische Öffentlichkeit haben. Da gibt es offensichtlich auch gar kein großes Interesse daran, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit zu haben, also eine zivilgesellschaftliche Plattform, in der wir miteinander auch kontrovers Dinge bereden.
Der Versuch, sich verschiedene Narrative zu erzählen und zu sagen, dafür lohnt es sich, mehr als Geld zu tauschen, sondern sich wechselseitig ein europäisches Einigungsgefühl zu geben, das fehlt alles. Deswegen glaube ich, ist in dieser Hinsicht nach dem Gipfel vor dem Gipfel – und jetzt muss auch noch einmal das Parlament zustimmen, und das ist auch noch alles gar nicht sicher.
DOMRADIO.DE: Ein weiterer Knackpunkt bei den Gesprächen: Das Geld ist ja an gewisse Werte gekoppelt. Ungarn und Polen hatten sich erst dagegen gewehrt, dann doch zugestimmt. Welche Werte genau sind das? Und was passiert eigentlich, wenn sich einige Staaten nicht an diese europäischen Werte halten?
Dabrock: Ich glaube, was Sie da ansprechen, ist wahrscheinlich noch viel stärker als die Geldfrage der Knackpunkt, wie es mit Europa weiter gehen soll. Wenn man so in die europäischen Sonntagsreden hineinschaut, dann werden in der Tat immer die europäischen Werte beschworen. Die sollen ein dritter Weg zwischen einem Ultrafreiheitsverständnis der amerikanischen Art und einem sozialistischen Gleichheitsverständnis chinesischer Art sein. Da soll zu Freiheit eben Solidarität und Gerechtigkeit hinzukommen – das alles basierend auf Rechtsstaatlichkeit.
Aber die Rechtsstaatlichkeit, so wird heute Morgen verkündet, sei nun ein Punkt gewesen, bei dem man auch einen Kompromiss gefunden hat. Wenn man aber genauer nachschaut, wie der denn ausschaut, so sind noch nicht die ganz genauen Informationen da. Man weiß nur, dass der Kompromiss offensichtlich so aussieht, dass die staatsnahen Medien in Ungarn das als einen großen Erfolg von Herrn Orban verkünden, sodass man nicht unbedingt den Eindruck haben kann, dass hier Rechtsstaatstandards, wie wir sie beispielsweise in Deutschland erwarten würden, dass Kompromissniveau sind.
Das deutet auf den entscheidenden Punkt hin: Wenn es uns in der Europäischen Union nicht gelingt, Wege zu ernsthaften Entscheidungen in Finanz-, aber auch anderen Fragen zu bekommen, die von der einstimmigen Lösung wegkommen, dann wird die Europäische Union nicht auf Dauer effektiv auch als Integrationsmaschinerie, als dritter Weg funktionieren können. Deswegen glaube ich, dass das der entscheidende Knackpunkt ist.
DOMRADIO.DE: Viktor Orbán haben Sie schon angesprochen. Auch die Polen scheinen da Gegenwind zu bringen. Eine polnische Nachrichtenagentur zitiert Regierungsquellen mit der Einschätzung, die Kopplung dieser besagten Werte an Finanzzusagen sei gestrichen worden. Da bahnen sich also jetzt schon Konflikte an.
Dabrock: So ist es. Und das Ganze zeigt, dass wir nicht nur das Problem in den Verfahren der Umsetzung haben, sondern weist auch tieferliegend darauf hin, dass wir ganz offensichtlich sehr, sehr unterschiedliche Interessen haben, warum einzelne Länder sich an dem Projekt Europa beteiligen. Gleichzeitig gibt es auch von unterschiedlich anderer Seite immer Verdächtigungen gegenüber anderen Staaten, warum sie da sind. Es gibt also unterschiedliche Interessen, und es gibt unterschiedliche Verdächtigungen von Interessen.
Dort gilt es, auf einen Weg der wechselseitigen Anerkennung zu kommen und nicht per se zu sagen: Jeder Ungar, jeder Pole ist ein Rechtsstaatverächter. Wenn man jetzt nur an den knappen Ausgang vor allen Dingen der Präsidentenwahl in Polen denkt, dann sieht man ja auch: Das ist alles viel komplexer unterhalb der Ebene, auf der man sich da in Brüssel trifft. Aber dass man dort versucht, die Kräfte in den Ländern zu unterstützen, die tatsächlich eine Idee von etwas haben, was mehr ist als der eigene nationale Egoismus, die eine Idee von einem Europa haben, das dem Land mehr bringt als nur Geldflüsse, das ist etwas, was gestärkt werden muss.
Ich glaube, dazu gibt es, so schwer dieser Weg ist, keine Alternative. Nur wenn wir das schaffen, und zwar nicht mit der einen Erzählung, sondern mit einem Netz von Erzählungen, dann wird es auch gelingen, dass diese Verhandlungen nicht am Ende diesen bitteren Beigeschmack haben: Am Ende ist es nur um uns selbst gegangen; sondern dass wir am Ende eines solchen Gipfels sagen: Ja, das hat sich gelohnt. Europa ist etwas, wo wir dankbar sind, dass wir da solidarisch mit dabei sind.