KNA: Professor Möllers, war der Staat übergriffig, als er das Grundrecht auf Religionsfreiheit in der Form und Länge eingeschränkt hat?
Prof. Dr. Christoph Möllers (Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität): Nein, ich glaube nicht. Der Staat stand vor einer völlig neuen Situation: Er musste mit sehr begrenzten Informationen schnell handeln. Aber die Frage, wie weit man die Religionsfreiheit unter solchen Bedingungen einschränken kann und darf, ist noch gar nicht abschließend geklärt.
KNA: Wo ist hier Klärungsbedarf?
Möllers: Schon im Parlamentarischen Rat wurde diskutiert, ob man eine Fronleichnamsprozession wegen einer Epidemie stoppen kann - mit uneindeutigem Ergebnis. Wir hatten solche Situationen im Großen noch nicht. Mir stellt sich aber auch die Frage, ob die gesetzlichen Grundlagen für derartig tiefe Eingriffe ausreichen. Genügt hier das Infektionsschutzgesetz, in dem die Religionsfreiheit gar nicht erwähnt wird?
KNA: Die Einschränkung der Grundrechte verlangt, dass die Verhältnismäßigkeit immer neu geprüft wird. Ist die Politik dem nachgekommen?
Möllers: Ich würde sagen ja. Es war ein Lernprozess im Wochentakt: vom pauschalen Verbot zu differenzierten Formen. Auch die Gerichte haben manches korrigiert. Wir müssen uns klar machen, dass das Verfassungsrecht immer auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses ist.
KNA: Die katholische Bischofskonferenz hat bei der Lockerung Kritik geäußert und mehr Respekt eingefordert, als hitzig über die Zahl an Quadratmetern bei der Öffnung von Geschäften diskutiert, aber die Gottesdienste nicht erwähnt wurden. Schwindet in der Politik das Verständnis für kirchliche Anliegen?
Möllers: Sicherlich hängt manches auch von der religiösen Sensibilität beteiligter Politiker ab. Wenn Sie mich aber als Juristen vor der Corona-Krise gefragt hätten, welches Grundrecht in der Abwägung stärker gewichtet wird: die Religionsfreiheit, etwa als Recht auf öffentlichen Gottesdienst, oder die Berufsfreiheit, etwa als Recht, Geschäfte zu öffnen, hätte ich immer gesagt: die Religionsfreiheit. Sie wurde immer hoch bewertet und Messen sind Kernbestand dieses Grundrechts. Jetzt hat man den Eindruck, dass es anders gelaufen ist.
KNA: Glaube schenkt Hoffnung, gibt Orientierung und hilft bei der Bewältigung unvermeidbarer Lebensrisiken gerade dort, wo die Medizin an ihre Grenzen kommt. Gehört zur Grundversorgung neben dem materiellen auch die soziale und religiöse Dimension? Wie systemrelevant sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften?
Möllers: Für mich als Christ ist Religion in jedem Falle Teil der Grundversorgung, aber dies wird von einer säkularen Gesellschaft mehrheitlich nicht mehr so gesehen. Fragen der Wirtschaft sind relevanter. Das müssen wir respektieren.
KNA: Was bedeutet dieser Wertewandel hin zu einer säkularen Gesellschaft für die Kirchen?
Möllers: Unter modernen Bedingungen müssen sie ihre Bedürfnisse deutlicher artikulieren. Es kann den Kirchen niemand abnehmen, auf ihre eigene Relevanz hinzuweisen. Sie können nicht darauf warten, dass ihnen jemand ihre Bedeutung bescheinigt. Dann kann man sehen, ob das von Gerichten auch so gesehen wird und wie der politische Prozess darauf reagiert.
KNA: Haben die Kirchen ihre Systemrelevanz hinlänglich artikuliert?
Möllers: Mir ist aufgefallen, dass die Reaktionen der Bischöfe etwa mit Blick auf den Ostergottesdienst schwach waren. Anschließend hat sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz deutlicher geäußert. Insgesamt hatte man aber nicht den Eindruck, dass eine echte Not, die Messe an Ostern nicht feiern zu können, zum Ausdruck kam. Das finde ich bemerkenswert, wenn wir zum Vergleich etwa auf die Prozesse schauen, die zum kirchlichen Arbeitsrecht geführt werden, mit sehr starken Ansprüchen darauf, wie relevant die Religionsfreiheit hier ist. Ich nehme - weniger als Jurist, denn als Christ - erstmal zur Kenntnis, dass es offenbar Präferenzen gibt, von denen ich nicht immer verstehe, wie sie theologisch fundiert sind.
KNA: Wo sehen Sie Konsequenzen?
Möllers: Ich bin mir nicht so sicher, ob die Kirchen wirklich verstanden haben, dass in der etwas zögerlichen Artikulation auch ein Problem für die Zukunft liegen könnte. Es könnte ihnen auf Dauer auf die Füße fallen, sich mit der Relativierung der Religionsfreiheit so schnell zufrieden gegeben zu haben. Nachdem sie sich so wenig geäußert haben, kann mittelfristig eine einschränkende Umdeutung der Religionsfreiheit die Folge sein.
KNA: Ist die Zurückhaltung der Kirchen auch eine Folge des öffentlichen Drucks durch den Skandal des Kindesmissbrauchs?
Möllers: Natürlich, gerade die katholische Kirche verhält sich massiv defensiv. Man merkt, dass sie große Angst hat, sich öffentlich zu äußern, weil ihre Glaubwürdigkeit erodiert ist. Man hatte aber manchmal das Gefühl, die Kirchen übernehmen gleich die Rolle des Staates mit, statt eigene Interessen zu vertreten.
KNA: Das Staat-Kirche-Verhältnis ist in Deutschland aber grundsätzlich kooperativ gestaltet.
Möllers: In der Tat haben wir hierzulande eine Tradition, im Religionsverfassungsrecht kooperativ zu agieren und wir sind damit gut gefahren. Man muss das trotzdem immer wieder überprüfen. Denn dabei kann der Staat die Kirchen auch vereinnahmen und domestizieren. Die Kirchen werden dann Teil eines großen Verbandskonzerts, bei dem alle mitspielen, aber keiner aus der Reihe tanzen darf.
KNA: Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht auf die Klage einer Einzelperson hin sogar die besondere Bedeutung der Eucharistie im katholischen Glaubensverständnis bestätigt, während einige Bischöfe weiterhin eher zurückhaltend bei der Spendung der Kommunion sind.
Möllers: Es ist jedenfalls eine große Ironie, dass das Gericht hier die Religionsfreiheit schärfer formuliert als manche Beteiligten. Auch dies könnte für die beteiligten katholischen Funktionäre Anlass geben, nochmals darüber nachzudenken, ob sie nicht manchmal zu demütig mit der eigenen Religionsfreiheit umgehen.
Das Interview führte Christoph Scholz.