KNA: Herr Spiegel, Sie absolvieren dieser Tage ein Riesenpensum: Als Gast haben Sie zuerst an den Ozeanien Beratungen der katholischen Weltsynode auf den Fidschi-Inseln teilgenommen. Nun sind Sie mit einer Misereor-Delegation auf Madagaskar, einem überforderten Land in Ostafrika mit maroder Infrastruktur. Spannen Sie doch einmal den Bogen rund um den Erdball.
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor): Die Welt - unser Planet - ist einerseits prächtig und schön. Aber andererseits kriegen wir es nicht hin, dass jeder und jede einen Platz am Tisch des Lebens bekommt. Ausgrenzung und Leid, frühzeitiges Sterben; das Ankratzen der menschlichen Würde und Persönlichkeit. In Ozeanien, dieser riesigen Weite des Meeres, konnte ich mit Menschen sprechen, die wirklich mit dem Ozean kommunizieren können; die in kultureller Vielfalt mit den Meeren leben und davon auch Zeugnis geben.
Hier in Madagaskar, Tausende Kilometer entfernt und trotzdem auf demselben Planeten, liegen großer Reichtum und schmerzliche Armut gleich nebeneinander, sichtbar füreinander. Wie Mondkrater sehen hier viele Straßen aus; und unmittelbar nacheinander treffen wir auf Ochsenkarren, große LKWs, Geländewagen und Menschen, die auf Rikschas andere Menschen ziehen; eine riesige Vielfalt an Farben und Eindrücken. In den Gesprächen hier wurde deutlich, dass im Land eine riesige Spirale allmählich abwärts führt und die Lebensumstände immer schlechter werden. Eine Welt - dafür ist Misereor unterwegs.
KNA: Beide Länder sind, auf unterschiedliche Weise, vom Klimawandel und von Umweltkatastrophen bedroht. Wo sehen Sie konkrete Potenziale zum Umsteuern?
Spiegel: Ein Beispiel: Während der Ozeanien-Konferenz haben wir Orte auf Fidschi besucht, wo durch Erosion immer mehr fruchtbares Land gefressen wird, Friedhöfe von Salzwasser überschwemmt werden. Das fügt den Menschen, denen die Verbindung zu ihren Ahnen sehr wichtig ist, großes Leid zu. Und die Bischöfe dort haben beraten, wie es möglich sein könnte, den Schrei der Ozeane zu hören. Was können wir der dämonischen Gier und den Kapitalinteressen entgegensetzen, die den Menschen ihren Lebensatem abschneidet? Die Antwort: Wir müssen uns politisch engagieren für das Leben, für die Unterdrückten und die Verletzlichsten in der Gesellschaft.
Hier in Madagaskar erleben wir eine Kirche, die auch selbst die Gegensätze abbildet von Arm und Reich, von Dazugehören und Ausgrenzen. Wir hören, auch von Ordensgemeinschaften, dass ein großer Teil der Jugendlichen nur ein Ziel hat: Weg von Madagaskar! Das bedroht natürlich die Zukunftsfähigkeit des Landes. Zugleich aber erleben wir einen enormen kulturellen Reichtum; Menschen, die Madagaskar lieben und das auch zeigen, in ihren Berichten etwa oder in Musik und gemeinsamen Tänzen. Und immer wieder sind es Frauen, die in äußerst schweren Lebensumständen Hoffnung vorleben und selbst Hoffnung geben.
KNA: Ein Viertel der Menschen in Madagaskar sind Analphabeten. Und vor allem Mädchen und junge Frauen fallen derzeit immer noch häufig zu früh aus dem Schulsystem. Wo kann man da ansetzen?
Spiegel: Ein Schwerpunkt der Arbeit von Misereor und seinen Partnern ist der Einsatz für Bildung. Viele Dörfer und kleine Gemeinden liegen sehr weit weg von den nächsten staatlichen Schulen - die zudem noch keine sonderliche Qualität haben. Und deshalb verfolgt zum Beispiel einer unserer Partner, die Organisation Vozama, das Ziel, Vorschulkindern, vor allem Mädchen, zunächst einen frühen Unterricht am Ort zu ermöglichen; damit sie dann später, wenn sie die lange Laufstrecke von teils über einer Stunde tatsächlich bewältigen können, die reguläre Schule besuchen können.
Dieses System hat sich sehr bewährt. Analysen nach über 25 Jahren Arbeit von Vozama zeigen, dass dies ein sehr wichtiger Schritt ist, damit die Kinder dazugehören und in ihrem aufrechten Gang bestärkt werden.
KNA: Konkret mit ihren Erfahrungen aus Madagaskar: Sind Frauen die besseren Menschen?
Spiegel: Immer wieder habe ich in den vergangenen Tagen gehört, dass aufgrund von kulturellen Gegebenheiten, Traditionen und aufgrund von Schicksalen Frauen besonders betroffen sind: weil sie durch frühen Schulabgang häufiger Analphabeten sind; weil viel häufiger Frauen Verantwortung für das Überleben von Familien übernehmen; weil die Sorge um das Leben ihnen näher zu stehen scheint als vielen Männern. Deshalb haben wir in der diesjährigen Fastenaktion Frauen und Mädchen ins Zentrum gestellt. Wir wollen ihren Nachteilen beim Zugang zu Lebenschancen bewusst etwas entgegensetzen. Frauen sind also nicht die besseren Menschen - aber sie sind in besonderer Weise von Leid und Ausgrenzung bedroht.
KNA: Halten Sie es denn für richtig, wenn die Bundesregierung Entwicklungsgelder an konkrete Frauenförderung knüpft, etwa zuletzt in Afghanistan - oder vielleicht auch auf Madagaskar?
Spiegel: Ja; eine solche Arbeit unterstützt Misereor schon seit Jahrzehnten in der Entwicklungszusammenarbeit. Mehr Gerechtigkeit ist nur mit Frauen zu erreichen und nicht ohne oder gegen sie. Auch aufgrund der Benachteiligungen von Frauen im wirtschaftlichen Kontext halten wir eine gezielte Frauenförderung für notwendig.
Hier in Madagaskar etwa zeigt sich deutlich, dass jene, die Erfolg bei der Arbeit auf den Reisfeldern haben, häufiger Frauen sind - dass ihnen aber zugleich Landrechte verwehrt werden. Auch das versuchen wir gezielt anzugehen, gemeinsam mit Partnerorganisationen.
KNA: Sie reisen ja viel in der Welt. Was nehmen Sie mit im Koffer aus Madagaskar? Haben Sie vielleicht etwas neu dazugelernt für das Leben in Deutschland?
Spiegel: Es ist natürlich schwer, so unterschiedliche Kulturen und Kontexte miteinander zu vergleichen. Ein Ziel der Arbeit von Misereor ist gerade auch, dass Madagassen hier in ihrer Würde Madagassen bleiben können und Deutsche in ihrer Würde Deutsche bleiben können, ohne dass das als besserer oder schlechterer Lebensansatz gesehen wird.
Was ich im Koffer mitnehme ist Freude, Gastfreundschaft, Kreativität; dass Leiden und Schmerzen trotz einer Spirale von struktureller Ungleichheit hier oft die Hoffnung nicht rauben. In solchen schweren Situationen Hoffnungsträger zu sein, das eigene Leben zu leben: Das finde ich stark! Davon könnten wir uns in Deutschland in manchen Belangen ein Stück weit anstecken lassen. Und das sollten wir auch nicht vergessen, wenn wir über Menschen reden. Deshalb versuchen bei Misereor, Menschen nicht als defizitär zu zeigen, sondern in ihrer Würde und mit ihrem Potenzial.