Bei seiner Reise ins Heilige Land im Mai 2014 hat Papst Franziskus unter anderem die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht und dort für die Opfer der Schoah gebetet. Ein Video dieses Besuchs wird Ende September 2024 im Zusammenhang mit einem antisemitischen Verschwörungsmythos verbreitet: Während sonst alle dem Papst die Hand küssten, küsse der Pontifex hier die Hände der Familie Rothschild. "Die wahre Macht steht im Hintergrund", heißt es im zugehörigen Kommentar.
Bewertung
Falsch. Es sind viele Gelegenheiten belegt, bei denen der Papst die Hände anderer Menschen verschiedener Religionen küsst. Im Mai 2014 sind es die Hände von Holocaust-Überlebenden, von denen keiner den Namen Rothschild trägt. Die Bezeichnung "Familie Rothschild" wird weltweit von Antisemiten genutzt, um einen erfundenen Verschwörungsmythos über Juden aufrechtzuerhalten.
Fakten
Bei seinem Israel-Besuch trifft Papst Franziskus am 26. Mai 2014 unter anderem Überlebende des Holocaust. Bei der Gedenkveranstaltung in der Erinnerungsstätte Yad Vashem nehmen damals stellvertretend für die sechs Millionen ermordeten Juden sechs Shoa-Überlebende teil: Avraham Harshalom, Chava Shik, Joseph Gottdenker, Moshe Ha-Elion, Eliezer Grynfeld und Sonia Tunik-Geron. Aufnahmen des Zusammentreffens zeigen, wie er die Hände der sechs Jüdinnen und Juden küsst und ihre Lebensgeschichte hört. Mehrere von ihnen sind in den zehn Jahren seit damals gestorben.
Bei niemandem von den sechs Schoah-Überlebenden gibt es Hinweise auf eine Verbindung zur jüdischen Bankiersfamilie Rothschild. Diese ist heute noch im Bankgeschäft tätig.
Name Rothschild häufig in Verbindung mit Verschwörungsmythen
Wegen seiner Rolle im Finanzwesen muss der Name Rothschild als Code häufig für Verschwörungsbilder herhalten, denen zufolge eine Elite im Geheimen den Verlauf des Weltgeschehens kontrolliere. Behauptungen über Verbindungen zur ursprünglich aus Deutschland stammenden Bankiersdynastie sind in antisemitischen Verschwörungserzählungen sehr beliebt, wie unter anderem ein Bericht der EU-Kommission von 2021 analysiert.
Der antisemitische Rothschild-Mythos dient seit dem 19. Jahrhundert als Projektionsfläche für eine angebliche jüdische Allmacht im internationalen Finanzhandel.
Papst küsst auch andere Menschen
Dass der Papst Menschen auf die Hände, Füße oder den Kopf küsst, ist zwar nicht alltäglich, aber auch nicht einmalig. Jedes Jahr an Gründonnerstag etwa wäscht das Oberhaupt der Katholischen Kirche ausgewählten Menschen die Füße. Die liturgische Geste erinnert an das letzte Abendmahl, bei dem der Bibel zufolge Jesus den Jüngern die Füße gewaschen hat.
In Aufnahmen aus dem Jahr 2024 ist zu sehen, wie Papst Franziskus weiblichen Häftlingen dabei die nackten Füße auch küsst. Aber Franziskus berührt genauso an Tagen, an denen kein christliches Fest begangen wird, andere Menschen mit seinen Lippen:
* Im September 2024 küsst der Papst die rechte Hand des Großimams Nasaruddin Umar nach einem interreligiösen Treffen mit Religionsführern in Südostasiens größter Moschee in Jakarta.
* Bei der Auszeichung mit dem Mutter-Teresa-Preis küsst er in Rom im Dezember 2022 den obdachlosen Gian Piero, genannt Wue, auf die Hand.
* Auf seiner Kanada-Reise im Juli 2022 bittet Franziskus um Vergebung für die von Christen an den indigenen Völkern begangenen Übel - und küsst eine Vertreterin dieser Völker auf die Hand.
* Trotz Corona-Pandemie küsst das Kirchenoberhaupt im September 2020 bei einer Generalaudienz im Hof des Apostolischen Palastes in Rom fünf Neupriestern die Handinnenflächen.
Es ist also nichts ungewöhnliches, dass der Pontifex Menschen die Hände küsst und damit seine Demut ausdrückt. Sie gehören auch ganz unterschiedlichen Religionen an: sie sind Juden, Muslime oder Christen. Die Gedenkstunde mit dem Papst in Yad Vashem ist schon in der Vergangenheit für antisemitische Falschbehauptungen missbraucht worden.