DOMRADIO.DE: Und das ganze Land redet darüber, ob die Menschen, die aus dem Kreis Gütersloh kommen, jetzt in gewissem Sinne schon stigmatisiert sind, wenn sie von zu Hause wegfahren. Ingo, erklär erst mal die Lage bei euch im Kreis Gütersloh. Wie sieht es da im Moment aus?
Ingo Brüggenjürgen (Chefredakteur von DOMRADIO.DE): Die aktuellen Daten sind alles andere als erfreulich. Es gibt gegenwärtig 75 neue bestätigte Fälle, und das sind eben Fälle, die nicht unmittelbar auf den Fleischkonzern Tönnies zurückzuführen sind. Und das in den letzten sechs Tagen. Wir wissen, auf 100.000 Einwohner reichen schon 50. Das heißt, für den Kreis Gütersloh sind das keine guten Zahlen. Besser sieht es im benachbarten Kreis Warendorf aus, wo auch viele der Werksmitarbeiter wohnen. Da gehen im Moment die Zahlen deutlich nach unten. Aber viele sagen hier: Na ja, bei uns testet ihr ja nun auf Teufel, komm raus – und es ist doch ganz klar, dass da mehr gefunden wird. Das stimmt natürlich auch.
DOMRADIO.DE: Das sind soweit die Fakten. Was macht das mit den Menschen vor Ort? Kommst du dir vor wie im Film oder ist es relativ ruhig, wenn du rausgehst?
Brüggenjürgen: Auf der einen Seite ist es sehr ruhig. Viele, auch gerade ältere Leute, ziehen sich zurück und bleiben in ihren Häusern. Aber wenn ich mit dem Fahrrad durch die Region fahre, erlebe ich es anders. Man muss es sich so vorstellen: Mehr als 1.500 Mitarbeiter von Tönnies leben hier in der Region mit ihren Angehörigen großzügig verteilt. 7.000 Menschen stehen unter Quarantäne und werden im Moment gecheckt. Das heißt, es sind Unmengen von Polizisten vor Ort, drei Hundertschaften wurden hierher verlegt. Auch die Bundeswehr und Hilfswerke sind im Einsatz - und die sind im Stadtbild nicht zu übersehen.
Wenn man an den betreffenden Häusern vorbeikommt, steht ein großer Krankenwagen davor und die Polizei. Und dann laufen Leute wie in Raumfahreranzügen - mit den bekannten Schutzanzügen - herum, nehmen Abstriche und testen. Gleichzeitig gibt es im ganzen Kreis vermehrt Teststationen, in denen man sich testen lassen kann. Viele Leute wollen ja in den Urlaub (und benötigen dafür negative Tests, Anm. d. Red.).
DOMRADIO.DE: Du hast es angesprochen, mehr als 7.000 Menschen sind in Quarantäne. Es sind die am stärksten Betroffenen. Wie sieht die Situation bei denen aus?
Brüggenjürgen: Ja, man muss sagen, es sind ohnehin schon arme Teufel, die unter teils schrecklichen Bedingungen gearbeitet haben. Das kommt nun alles ans Tageslicht. Gleichzeitig sind deren Behausungen alles andere als gemütlich. Sie befinden sich derzeit in einer besonderen Situation: Sie sind in Quarantäne und teilweise sogar richtig abgeschottet. Man überwacht diese Quarantäne, sie dürfen das Haus nicht verlassen. Man kann sie nicht flächendeckend überwachen, weil es so viele Unterkünfte sind. Die kann man nicht alle einzeln einzäunen. Die Bilder, die wir in den Nachrichten gesehen haben, sind aus Sürenheide, einem benachbarten Ort, wo ein ganz großer Block, eine ganze Siedlung, quasi abgeriegelt worden ist. Aber es wird schon verstärkt kontrolliert, und die Arbeiter sind natürlich besonders arm dran.
Und deshalb wundert es auch nicht, dass viele von diesen Arbeitern, als die ersten Nachrichten kamen, diese Region verlassen haben. Es hat ja sehr lange gedauert, bis die Firma Tönnies die entsprechenden Daten herausgegeben hat. Da vergingen drei bis fünf Tage, bis die Quarantäne-Maßnahmen durchgezogen werden konnten. Und jetzt stellt man fest, dass viele Wohnungen, die vom Gesundheitsamt im Kreis aufgesucht werden, plötzlich überhaupt nicht mehr bewohnt und die Leute mit unbekanntem Ziel verzogen sind. Das ist alles wenig erfreulich.
Es trifft auch die Menschen im Kreis, die jetzt versuchen, in den Urlaub zu fahren. Natürlich stehen die an, bekommen einen Test, und wenn sie Glück haben, sind sie auch nicht infiziert. Aber ich habe von vielen gehört, die gesagt haben: Unsere Hotels und Pensionen wollen uns trotzdem nicht, weil die ganz große Sorge haben, wenn ein Wagen aus dem Kreis Gütersloh vorm Hotel steht. Das kann man sich natürlich gut vorstellen.
DOMRADIO.DE: Hast du dich selber schon getestet oder spielst du mit dem Gedanken?
Brüggenjürgen: Nein, ich habe mich selber noch nicht getestet. Ich habe mit einem Chefarzt gesprochen, der hat gesagt: Wir können im Moment feststellen, ob da ein Virus ist, aber wir wissen nicht, wie es kurze Zeit später aussieht und ob die Krankheit dann vielleicht doch noch ausbricht. Also die Aussagekraft ist, glaube ich, relativ gering. Und ich habe wie gesagt auch von Leuten erfahren, die einen negativen Test haben und die Hotels am Bodensee, an der Ostsee trotzdem gesagt haben: Bleibt mal da, wo ihr seid, es tut uns leid, aber im Moment brauchen wir euch nicht.
DOMRADIO.DE: Eigentlich wolltest du dich nächste Woche auf große multimediale DOMRADIO.DE-Pilgerreise machen. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Hast du schon Ideen, wie es jetzt weitergeht?
Brüggenjürgen: Ich habe mir überlegt, ob ich nicht eventuell hier die eine oder andere Heimatkirche aufsuche. Wir haben ja gegenwärtig bei DOMRADIO.DE die Sommeraktion Heimatkirche laufen. Da sind alle eingeladen, weil eben auch viele zu Hause bleiben, in diesen Sommerferien Bilder im Internet von ihrer Heimatgemeinde hochzuladen.
Und ich denke, ich werde in der nächsten Zeit vielleicht auch die eine oder andere Kirche ansteuern und ein paar Bilder hochladen. Vielleicht gelingt es mir auch, mit dem einen oder anderen, der da beheimatet ist, zu sprechen und ein paar Interviews zu machen. Also, da gibt es natürlich Möglichkeiten. Wie sagt man als Journalist: Die Themen liegen doch auf der Straße.
DOMRADIO.DE: Das ist doch eine gute Einstellung. Lass uns zum Schluss noch auf dich persönlich gucken. Du berichtest relativ entspannt über die ganze Lage bei euch im Kreis Gütersloh. Was macht das denn mit dir?
Brüggenjürgen: Man überlegt natürlich. Und es geht ja vielen so: Diese Krise bringt manches deutlicher, wie in einem Brennglas, zutage. Sie beschleunigt einiges, man kriegt einen klareren Blick, und wenn man jetzt hier sieht, die Gottesdienste finden statt, aber unter noch größeren hygienischen Umständen. All das betrifft einen irgendwie. Man fragt sich, wie man insgesamt damit umgeht. Ich für meinen Teil habe mir vorgenommen, zukünftig das, was man als falsch erkennt, deutlicher zu benennen.
Denn es wussten viele, auch ich, was hier rundherum los war: Dass die Arbeiter im Fleischkonzern nicht gerecht bezahlt und vernünftig untergebracht wurden. Ich habe zwar davon berichtet und darüber geschrieben, aber nicht so laut, wie ich das hätte tun können. Da waren andere viel mutiger. Ich glaube, wir als Christen müssen insgesamt in Situationen, die unrecht sind und die nicht vernünftig laufen, deutlich unseren Mund aufmachen und klar Stellung beziehen - damit so etwas nicht ununterbrochen weitergeht.
Wir müssen den Nächsten mehr im Blick haben. Und das sind in diesem Fall hier die Werksarbeiter, die ausgebeutet wurden. Wo viel zu viele zugesehen und mitgemacht haben. Wir sind als Verbraucher auch mit verantwortlich, weil wir Billigfleisch konsumieren. Die Strukturen müssen geändert werden, da ist die Politik ja dran. Und insgesamt müssen wir den Blick stärker auf die Leute richten, die richtige Probleme haben und nicht so sehr in unseren eigenen Welten kleben bleiben.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.