DOMRADIO.DE: Auch nach dem Wechsel an der Spitze des documenta-Teams reißt die Antisemitismusdebatte nicht ab. Herbe Kritik kommt jetzt etwa aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der eine vorzeitige Beendigung fordert. Ist das auch Ihr Ansatz, die documenta abbrechen und so lange schließen, bis die Inhalte angemessen überprüft sind?
Jürgen Wilhelm (Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit): Nein, ich würde nicht so weit gehen. Obwohl man natürlich schon fassungslos davor steht, dass auch Herr Farenholtz, der neue Leiter, nicht daran gedacht hat den neuen Vorwürfen, – die ja von der hessischen Informationsstelle Antisemitismus entdeckt worden sind, Kunstwerke auf strafrechtlich relevante Inhalte zu überprüfen – dem Antisemitismusvorwurf und dessen gesellschaftspolitische Dimension nachzugehen.
Diese Naivität und gleichzeitig die Chuzpe, die damit verbunden ist, die ist wirklich nicht mehr akzeptabel. Sie ist auch schrecklich.
Aber dennoch, ich meine mindestens 95 Prozent, und ich hoffe doch, dass man sogar sagen könnte, 99 Prozent der Kunstwerke, die von Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt dort gezeigt werden, sind nicht antisemitisch. Ich unterstelle, dass man jetzt nicht noch weitere findet. Deshalb fände ich es einfach kulturpolitisch schade, wenn man diese in der Regel ja großartigen Schau schließen würde, die neben der Biennale in Venedig eine der bedeutendsten Kunstausstellungen für zeitgenössische Kunst ist, die es auf der ganzen Welt gibt.
Ich würde nicht so weit gehen, sondern ich würde einfach konsequent vorgehen, wie das bei der Vorgängerin von Herrn Farenholtz geschehen ist. Ob er auch gleich wieder nach Hause geschickt werden soll, weiß ich nicht. Aber es macht mich fassungslos, dass er einen solchen dümmlichen und völlig inakzeptablen Kommentar zu einem eindeutig antisemitischen Kunstwerk von sich gibt. Da kann ich Herrn Schuster schon verstehen.
DOMRADIO.DE: Die documenta sollte eigentlich die wichtigste Schau der Welt in Sachen zeitgenössischer Kunst sein. Das wird nun von dieser Kontroverse um antisemitische Darstellungen völlig überschattet. Das in einem Moment, in dem der Antisemitismus in Deutschland wieder zunimmt. Spiegelt die documenta da einen Trend?
Wilhelm: Das ist sehr bedrohlich, das so anzunehmen. Aber es ist wahrscheinlich richtig. Im vergangenen Jahr haben wir mit unserem Verein 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland mit über 2500 Veranstaltungen gefeiert. Wir haben versucht, jüdisches Leben konstruktiv in diese Gesellschaft wieder hineinzubringen, ein wenig weg von der Fokussierung auf Holocaust, ohne etwas schönzureden.
Wir sind in der ganzen Bundesrepublik in der Regel auf positive, auch mediale, Resonanz gestoßen. Heute zu sehen, welche Ignoranz dort in Kassel an den Tag gelegt wird, ist erschreckend. Natürlich ist die documenta unwiederholbar beschädigt. Es ging aber jetzt um die Frage: Schließen oder die Probleme beseitigen? Ich bin natürlich dafür, sofort die Probleme zu beseitigen. Wenn diese mit Personen zusammenhängen, dann muss Frau Claudia Roth, die Kulturstaatsministerin und Hauptgeldgeberin, mal Tacheles reden.
DOMRADIO.DE: Die documenta Leitung war gewarnt. Dennoch tauchen wieder antisemitische Zeichnungen auf. Ist das in Ihren Augen irgendwie zu entschuldigen?
Wilhelm: Nein, zu entschuldigen ist es nicht. Das ist aber auch keine moralische Frage, sondern das ist eine politische Frage. Nach monatelanger Diskussion und all dem, was wir jetzt wissen, was die vorherige Leitung an Ignoranz, Dummheit und auch Arroganz von sich gegeben hat, antwortet Herr Farenholtz nun in den Medien auf diesen erneuten Vorwurf, dass strafrechtlich relevante Dinge nicht festgestellt worden seien.
Deshalb hätte man dieses neue Pamphlet wieder eingestellt, anstatt sich um eine Kontextualisierung zu bemühen, was das Mindeste gewesen wäre, was man hätte verlangen können. Stattdessen sagt er, antisemitische Vorwürfe habe er daraufhin nicht geprüft. Es ist keine moralische, sondern eine gesellschaftspolitische Frage und, wenn Sie so wollen, auch intellektuelle Dummheit, so etwas noch zu sagen. Und das ist nicht zu verantworten.
DOMRADIO.DE: Jüdische Institutionen sind entsetzt. Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, hat sich bereits als Berater von der documenta zurückgezogen und fühlte sich gar als Feigenblatt benutzt. Da ist viel Porzellan zerschlagen worden. Denken Sie, das kann wieder gekittet werden? Und falls ja, wie denn?
Wilhelm: Indem sich eben jetzt die documenta-Leitung in Person von Herrn Farenholtz und seinem Team hundertprozentig so verhält, wie man es bitteschön in Deutschland im Jahre 2022 erwarten darf. Wenn solche antisemitischen Karikaturen oder Zeichnungen oder Ähnliches gefunden werden, sie zu entfernen und organisatorisch noch einmal alles zu durchforsten. Denn es ist ja offenbar immer noch hier und da etwas aufgetaucht.
Was soll man sonst machen? Im schlimmsten Fall muss wieder ein neuer Leiter her. Zwar ist die documenta beschädigt, aber die Schau zu schließen vor dem Hintergrund, dass die documenta eine der ganz großen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Deutschland ist, halte ich nicht für richtig. Am Anfang wurde ja sogar die Kunstfreiheit gegen den Antisemitismus ausgespielt. Das ist ja völlig absurd. Kunstfreiheit hat natürlich mit Antisemitismus gar nichts zu tun. Also was soll man machen? Aufräumen, Sondersitzungen machen und hart durchgreifen.
Aber noch einmal: Etwa 95 oder vielleicht im Glücksfall noch mehr Prozent der Kunstwerke sind ja in Ordnung, die zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt dort zeigen. Deshalb würde ich mit dem eisernen Besen nur insofern kehren, als endlich konsequent und stringent gegen den Antisemitismus in dem ein oder anderen Kunstwerk vorgegangen wird.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.