"Das ist unsere Welterfahrung. Wenn ein Kind geboren wird, ist es ganz egal, was um uns herum passiert - umgekehrt dieser Terror, der alles zerstört. Wir erleben diese Gleichzeitigkeit, dass das Schöne das Schreckliche nicht aufhebt, aber auch umgekehrt, dass das Schöne nicht vollends vom Schrecklichen erschlagen wird", sagt Navid Kermani.
Er war viel als Kriegsreporter unterwegs. Auch in Gaza war er und sagt, er habe wenige Landstriche gesehen, die trostloser waren. Freunde hat er in Israel und in Palästina. Er hoffe und bete, dass der Moment für politisches Handeln wiederkehre.
Dialektik des Seins
In seinem neuen Roman "Das Alphabet bis S" zitiert Kermani den Autor Julien Green, der schreibt: "Der Traum des Menschen ist paradiesisch, aber seine Perversität treibt ihn dazu, diesen in einen Albtraum zu verwandeln". Das ist gerade jetzt ein beklemmendes Zitat.
Im DOMRADIO.DE Interview erzählt Kermani, wie er als Reporter in Kriegsgebieten aber auch inmitten des Schreckens immer wieder Momente der Freude erlebt habe. In Grenzen, schränkt er ein, sei das möglich, denn es gebe Situationen, wo alles Freudvolle wegbreche und wegsterbe.
"Aber der Mensch hat die Fähigkeit, seine eigene Gegenwart zu transzendieren, genau wie er die Fähigkeit hat, seine Gegenwart immer wieder in den Dreck zu stoßen in das Blutige im wortwörtlichen Sinn. In dieser Dialektik leben wir".
Suche nach dem Sinn des Lebens
Bücher sind für Kermani das Fenster zur Welt. Ohne Bücher könne er sich das Leben nicht vorstellen. Gerade in Momenten der Bedrängung und der Not seien Bücher ein großes Glück – eine Rettung wie ein Gebet. In seinem neuen Roman schickt er die Romanheldin auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Ich-Erzählerin ist um die fünfzig Jahre, ihre Ehe ist gescheitert, die Mutter gestorben. Sie stellt sich die großen Fragen des Lebens.
Kermani sagt, mit dieser Figur habe er seine eigenen Zweifel an Gott und die Welt noch vergrößern wollen - noch mehr zuspitzen wollen. Was ist danach? Wohin gehen wir? Wo verschwindet das Bewußtsein?, fragt die Romanheldin – und immer wieder stößt sie auf Gott.
"Gott nicht als Vaterfigur, sondern auch als Mutterfigur, diese weiblichen Anteile, dieses elementare Bedürfnis nach Geborgenheit des Babys, das Hilflose und die Urwahrheit steckt darin", sagt Kermani. Kindlicher Glauben sei für ihn häufig näher an der Wahrheit als manche philosophische Äußerung.
Kermani: Das Gebet tröstet und hilft
Zuflucht findet die Romanheldin nicht nur in der Lektüre ihrer Bücher, sondern auch im Gebet. "Also wenn es nicht helfen würde, dann gäbe es das Gebet nicht", sagt auch Kermani. "Menschen, die beten, tun das nicht, weil sie irgendeinem Dogma folgen, sondern weil sie spüren, dass es sie tröstet und ihnen hilft."
Der Autor ist überzeugt, dass Gebete aus einer Vernunft kommen, die, wenn sie schon nicht himmlisch ist, dann kollektiv aus anderen Zeiten stammt – diese uralten Rituale, dieses Niederfallen, Aufrecht stehen, Hände ausbreiten, das Murmeln der Lippen.
"Wenn wir sprachlos sind, spricht da etwas durch uns hindurch und gibt uns die Möglichkeit, indem es durch tausend Zungen geformte Worte sind, es zu verbalisieren“. Wenn das weg breche, dann erzeuge das eine gewisse Hilflosigkeit.
Unglaublicher Moment - die Papstaudienz
Kermani schickt seine Romanheldin zum Papst, sie nimmt an einer Audienz teil und hat sogar die Gelegenheit, kurz mit dem Papst zu sprechen. Der Heilige Vater sagt ihr: "Beten sie für mich". Das beeindruckt sie, wird aber gleich danach dadurch relativiert, dass sie erfährt, der Papst habe das zu jedem seiner Besucher gesagt.
Kermani hat selbst eine Papstaudienz erlebt, diesen unglaublichen Moment, wie er sagt, plötzlich vor dem Papst zu stehen. Allein der Weg durch die vatikanischen Gemächer sei überwältigend. Im Roman ist seine Heldin hin und hergerissen.
Sie empfindet die Überwältigung auf dem Weg durch die Heiligen Hallen als Strategie und ist dann doch selbst überwältigt - diese Macht, die von dieser Form ausgeht. "Der Papst wirkt wie in ganz weiter Ferne und versucht dabei irgendwie auch noch Mensch zu sein."
Der Roman "Das Alphabet bis S" ist kein religiöses Buch, aber ein Buch, in dem das Religiöse eine bedeutende Rolle spielt, ein Buch wie eine Suchbewegung nach Trost, nach Sinn, auch nach Erlösung.