Fast neun Jahre sind vergangen, seit der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim im größeren Umfang bekannt wurde: Kurz vor dem 100. Geburtstag der Schule im April 2010 und kurz nachdem Ende Januar 2010 die Enthüllungen am Berliner Canisius-Kolleg die kirchliche Missbrauchsdebatte angestoßen hatten.
Erst nachdem ehemalige Schüler des reformpädagogischen, privaten Elite-Internats die Mauer des Schweigens durchbrochen hatten, wurde auch an der Odenwaldschule die Dimension des Missbrauchs zumindest ansatzweise deutlich: Mindestens 132 Schüler waren zwischen 1965 und 1998 sexuellen Übergriffen durch Lehrer ausgesetzt, wie der im Dezember 2010 vorgelegte Abschlussbericht der Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller und der ehemaligen Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt, Brigitte Tilmann, ergab. Demnach waren 115 Jungen und 17 Mädchen betroffen. Die Juristinnen gaben aber auch an, dass die Dokumentation unvollständig sei.
Wissenschaftliches Buch versucht Antworten zu geben
Haupttäter war demnach der im Juli 2010 verstorbene renommierte Pädagoge Gerold Becker, der die Schule von 1972 bis 1985 leitete. Doch: Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte sich in dieser Schule, die lange als Vorzeigeprojekt der deutschen Reformpädagogik galt und die es seit ihrer Insolvenz im Jahr 2015 heute nicht mehr gibt, ein System des Missbrauchs herausbilden?
Eine Antwort darauf versucht nun der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp zusammen mit vier weiteren Wissenschaftlern zu geben: An diesem Sonntag erscheint im Wissenschaftsverlag Springer ihr Buch "Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt: Eine sozialpsychologische Perspektive".
Mythos Odenwaldschule
Ziel der Forschungen sei es nicht gewesen, die Ermittlungen von Burgsmüller und Tilmann "fortzuschreiben", heißt es. Vielmehr wollen die Autoren mit dieser ersten wissenschaftlichen Studie zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals einen "Deutungsrahmen" der Geschehnisse geben. Vor allem zwei Faktoren haben demnach die "Freiräume" für ein sexuelles Missbrauchssystem geschaffen: Das "Fehlen eines verbindlichen, regelmäßig überprüften pädagogischen Konzepts" und der "kaum antastbare Vertrauensvorschuss gegenüber der Odenwaldschule", die ein Mythos umgeben habe. Der unkritische Glaube an die "heile Welt" der Schule sei zu wenig hinterfragt worden.
Die traurige Bilanz der Autoren, die sich bei ihrer Analyse auf insgesamt 62 eigene Interviews, insbesondere mit ehemaligen Schülern und Lehrkräften, stützen: Es habe in der Geschichte der Schule "mehrere Phasen gegeben, in denen das Missbrauchssystem hätte analysiert und überwunden werden" können. Hier liege "ein Jahrzehnte währendes Systemversagen" vor, das nicht nur an einzelnen Tätern festgemacht werden dürfe. Einen "Mangel an Verantwortung" sehen die Wissenschaftler auch bei der staatlichen Schul- und Heimaufsicht sowie den Eltern der Odenwaldschüler.
Keine offene Debatte über Nähe und Distanz
Gerold Becker - der von Schülern als "charismatisch" geschildert wird - habe es mit seinen rhetorischen Fähigkeiten vermocht, die Oberhand gegenüber schulinternen Widersachern zu behalten. "Das geschah nicht zuletzt aufgrund der Rückendeckung durch den Vorstand der Odenwaldschule und mittels eines mächtigen schulinternen und externen Netzwerks von Unterstützern", so die Buchautoren.
An der Internatsschule habe sich ein "scheinbar progressives Sexualitätsverständnis" durchsetzen können, in dem "gut getarnt die sexuellen und emotionalen Bedürfnisse Erwachsener häufig Vorrang vor den Bedürfnissen der ihnen anvertrauten Schüler und Schülerinnen hatten". Eine offene Auseinandersetzung mit Fragen der Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen "fand in der Odenwaldschule offensichtlich zu keinem Zeitpunkt statt", so die Studie. Die Einrichtung sei also zumindest während der Zeit unter Beckers Leitung ein "Gefährdungsmilieu" gewesen.
Eltern haben sich blenden lassen
Den Eltern habe es an Wissen über sexualisierte Gewalt gefehlt. "Darüber hinaus waren sie von der besonderen Reputation der Odenwaldschule (und ihres Schulleiters) geblendet und nicht bereit, eine Realität anzuerkennen, in der ihre Kinder (die sie teilweise 'abgeschoben' hatten) Opfer sexualisierter Gewalt durch Lehr- und Erziehungspersonal wurden", so die Buchautoren weiter. Eltern hätten - trotz gegenteiliger Informationen - an der Überzeugung festgehalten, ihre Söhne und Töchter an einem "guten Ort" untergebracht zu haben.